Autor Houellebecq: Dauerbrummiger Zweifler.

Michel Houellebecq: Der Zyniker vom Dienst meldet sich zurück

In seinem neuen Roman "Vernichten" erzählt Michel Houellebecq eine Liebesgeschichte in Zeiten des Hasses.

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„Vernichten“, Michel Houellebecqs achter Roman, beginnt so, wie die Bücher dieses Autors gemeinhin anheben: „An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt. Die Sommerferien sind längst vorbei, das neue Jahr ist noch weit weg; das Nichts ist ungewohnt nah.“ In den Romanen des Franzosen schlägt verlässlich die Stunde, die zu Resignation und Verzweiflung einlädt. Es wirkt so, als führten seine Antihelden spezielle Listen, in denen die Schlechtigkeiten der Welt bis zum Abwinken protokolliert sind. Der dauerbrummige Zweifler Houellebecq, 65, taucht ins Schwarz ab, kein Hoffnungsschimmer, nirgends. Bei der Lektüre navigiert man gemeinsam mit Houellebecq im Dunkeln – und ist hellauf begeistert. 

„Vernichten“ ist nun allerdings ein untypischer Houellebecq in maßgeschneiderter Houellebecq-Hülle: Der Roman erzählt von Paul Raison, einem Pariser Jedermann und Mitarbeiter im französischen Wirtschaftsministerium. Pauls Leben ist verpfuscht, seine Nachtträume bizarr, die Beziehung zu seiner Ehefrau Prudence am Ende. Der Endvierziger geistert während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2027 durch die Tage, seine ausufernde Apathie veranschaulicht vielleicht kein Gedanke besser als jener, der Paul nach dem Selbstmord seines Bruders durch den Kopf geht: „Es war in der Tat traurig, aber was sollte man noch weiter dazu sagen? Es war auch ein schöner Frühlingsmorgen für die Maden und die Larven, in ein paar Tagen würden sie sich an seinem Fleisch laben können, auch sie würden die ersten schönen Tage feiern.“ Paul wird mit dem nahenden Tod ebenfalls bald Bekanntschaft schließen – und unverhofft das Glück kennenlernen. 

Houellebecqs Prosa und Lyrik sehen sich seit je mit zwei Gegebenheiten konfrontiert, die mit dem eigentlichen Schreiben von Literatur nur am Rande zu tun haben. Erstens macht es der Autor seiner Leserschaft nicht gerade leicht, denn dessen auf zahllosen Fotos in einer Mischung aus Gedichte-Gollum und Roman-Rumpelstilzchen porträtierte (und von ihm selbst wohl nicht ungern inszenierte) Künstlergestalt schiebt sich formatfüllend vor praktisch alle Houellebecq-Helden. Das öffentliche Bild eines Mannes mit der schlechten Haut, dem dünnen Haar und der obligaten Zigarette zwischen Mittel- und Ringfinger hat Houellebecqs Literatur gekapert. Bei den raren Interviews, die er gewährt, lümmelt der Schriftsteller als fahler Geselle im Sessel, als wäre sein Körper kaum noch von Knochen gestützt. Es ist mitunter schwer zu unterscheiden, ob Houellebecq selbst oder eine Houellebecq-Figur da (maulfaule) Rede und (knappe) Antwort steht. 

Wer, zweitens, auf Provokation und Skandal baut, darf nicht nachlassen, sonst wird er bald vergessen. Das wissen inzwischen auch Houellebecqs französische Verlage, die jedes neue Buch des Autors als eine in aller Öffentlichkeit verhandelte, semisakrale Geheimsache in Szene setzen. Von „Ausweitung der Kampfzone“ (1994/dt. 1999) über „Elementarteilchen“ (1998), „Plattform“ (2000/2001), „Karte und Gebiet“ (2010/2011) bis zu „Unterwerfung“ (2015) lässt sich ein ziemlich nahtloses Diagramm wiederkehrender öffentlicher Erregung nachzeichnen, das bei Erscheinen jedes neuen Houellebecq-Titels senkrecht nach oben ausschlägt. 

Die Literaturzeitschrift, bei der Houellebecq während der Publikation von „Elementarteilchen“ angestellt war, kündigte dem Autor unter dem Vorwurf, er verfechte faschistische Ideen. Die Sextourismus-Eloge „Plattform“ wurde als religionsfeindlich kritisiert, der Klon-Roman „Möglichkeit einer Insel“ (2005) als Großer-Bruder-Groschenheftliteratur abgekanzelt. „Unterwerfung“ wiederum, ein von Houellebecq trickreich geknüpftes Prosanetz mit irreführenden Verweisen und falschen Fährten, war mit dem massiven Vorwurf konfrontiert, Mitschuld am islamistischen Terror gegen das Satireblatt „Charlie Hebdo“ zu tragen, bei dem 17 Menschen von zwei Dschihadisten regelrecht hingerichtet wurden. 

„Vernichten“ schließlich sorgte für gehörigen Wirbel, weil Tage vor Veröffentlichung des französischen Originals bereits eine gehackte PDF-Version im Internet kursierte. Dem Verlag Flammarion, der eine PR-Hundertschaft für das Buch mit einer Startauflage von 300.000 Exemplaren abgestellt hatte, kam der Datenklau wohl nicht ganz ungelegen. 

Die große Rechnung geht in „Vernichten“ indes nicht auf. Viele Realitätsfitzelchen ergeben keinen Roman; das Einstreuen von Stichworten, an denen sich das öffentliche Interesse entzünden könnte, mündet in allzu kurz aufblitzende Momente der Kritik an Konsum und Umweltzerstörung, Islamismus und Populismus, Katholizismus und Esoterik, NSA und Weltverschwörung, Pflegenotstand und Finanzkapitalismus. Houellebecq legt Lunten. Viele davon zünden nicht, etliche verpuffen. Die mysteriösen, 42 Codes umfassenden Zeichen, die eine Geheimorganisation global auf Bildschirme und in U-Bahnschächte platziert? Eine müde Referenz an den Science-Fiction-Klassiker „Per Anhalter durch die Galaxis“, in dem der Supercomputer Deep Thought die nämliche Zahl als die Antwort auf alle Fragen auswirft. Der tödliche Torpedo-Angriff auf ein Schlepperboot mit afrikanischen Migranten östlich des Meeresstreifens zwischen Ibiza und Formentera? Houellebecq macht daraus durchgeknallten Alle-Menschen-werden-Brüder-Slapstick. Der internationale Terror? In „Vernichten“ wird daraus eine läppische Kritzelei, die mit Overheadprojektor an die Wand geworfen wird: Selbst Thriller-Bestseller Dan Brown hätte das Pentagramm-Geraune besser hinbekommen. 

Im Grunde sagt Houellebecq in jedem Satz: Obacht, Provokation! Achtung, Sprengmeister am Werk! Dazu passt, dass im Buch eher einfallslos die seitengroße Skizze einer Guillotine abgebildet ist und das Who’s who der internationalen Terror- und Verschwörungsprominenz unmotiviert durch den Text flaniert: der „Unabomber“ Theodore Kaczynski, der Rechtsterrorist Anders Breivik sowie US-Wirrkopf Chris Korda, Erfinder der „Church of Euthanasia“, deren vier Säulen auf Selbstmord, Abtreibung, Kannibalismus und Sodomie gründen. 

Hier steht Houellebecq, und er kann offenbar nicht anders. Peng! Boom! Rums! Zisch! Der Autor veranstaltet Lärm wie in einem Superhelden-Blockbuster, der mutmaßlich davon ablenken soll, dass er in Wahrheit eine Liebesgeschichte erzählen will. Begreift man „Vernichten“ als Prosa-Wimmelbild, dann ist dieses auf den ersten Blick mit Blutsudelei und islamistischen Mordanschlägen, mit allerlei globalen Krisen gut gefüllt – ein schwarzes Märchen aus einer Zeit, da das Wünschen nicht mehr geholfen hat. 

Bei genauerem Hinsehen hintergeht Houellebecq in „Vernichten“ allerdings seine alten Musenfreunde Schopenhauer und Nietzsche, die philosophischen Weltverfinsterer, gewissermaßen mit Hedwig Courths-Mahler und Rosamunde Pilcher, den ungekrönten Romanzen-Königinnen. Die Beziehung von Paul und Prudence erlebt einen zweiten Frühling, der Houellebecqs auf Skandal getrimmte Programmatik wie das folkloristische Beiwerk einer so großen wie traurigen Liebesgeschichte wirken lässt: Das entfremdete Ehepaar findet wieder zueinander, als Paul schwer erkrankt (nein, nicht an Covid-19). Die Liebe siegt. Das Böse verschwindet. „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“, schnulzte der deutsche Schlagersänger Jürgen Marcus vor 50 Jahren ins Mikro. Houellebecq stimmt, als einer der letzten Romantiker und Moralisten, zu.

Woran Paul genau laboriert, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Darüber sollte man unbedingt lesen. Nur so viel: Houellebecq vermittelt einen sehr belastbaren Eindruck davon, wie Menschen mit Schmerz und ohne Hoffnung leben, ein Bild des Zustands eines Mannes, der Bestrahlung und Chemotherapie erdulden muss. In den Worten des Philosophen Pascal, den Houellebecq wiederholt zitiert: „Der letzte Akt ist immer blutig, so schön unter anderem die Komödie gewesen sein mag. Zum Schluss schüttet man ein bisschen Erde auf uns, und alles ist für immer beendet.“

Die zweite Lebenshälfte, das spürte er, würde noch schneller vergehen, sie würde sekundenschnell verrinnen, sie würde wie ein Windhauch vorbeiziehen.

Michel Houellebecq

„Vernichten“

Paul jedenfalls, von dem es einmal heißt, er lebe in Paris auf einer „einsamen Insel mitten im Nichts“, reagiert auf die Hiobsbotschaft von der lebensbedrohenden Krankheit kurz nach seinem 50. Geburtstag mit dem Erfolgsrezept für alle Lebens- und Sterbenslagen: „Wie merkwürdig! Wie schnell die Zeit vergangen war! Und die zweite Lebenshälfte, das spürte er, würde noch schneller vergehen, sie würde sekundenschnell verrinnen, sie würde wie ein Windhauch vorbeiziehen, das Leben war wirklich so gut wie nichts.“ Wäre da nicht Prudence. Und ein Roman, der sich stellenweise erstaunlich furchtlos – und dies nicht allein zu seinem Nachteil – in die Nähe des Herz-Schmerz-Genres begibt. 

Houellebecqs Bücher leben in der Regel vom Zauber des Hochtrabenden, von der Philosophie der Übertreibung, von der Aufmerksamkeit für das sozialpolitische Große und Ganze. „Vernichten“, diese schwarz-düstere romantic comedy, kann es mit Houellebecqs literarischen Untergangsszenarien locker aufnehmen. 

Das vorerst letzte Kapitel in Pauls Leben entfaltet sich zu Herbstende, wie im ersten Satz des Romans verkündet. Ein Mensch am Abgrund, von Houellebecq so ausführlich wie brutal in Szene gesetzt: „Zuerst spürte er den Sturz, der sich furchtbar in die Länge zog, den Schrecken, der ihm immer mehr den Atem nahm, je näher der Moment des Aufschlags kam. Dann fühlte er sich, als würde er den Aufprall bewusst erleben, die inneren Organe explodierten, die zerschmetterten Knochen durchbohrten das Fleisch, der Schädel wurde zu einer Lache aus Gehirnmasse und Blut; doch das alles war noch nicht der Tod, es war die Vorwegnahme des Leidens, das, so meinte er, ihm notwendigerweise vorausgehen müsse. Der Tod selbst könnte die dann folgende Phase sein, in der die Zugvögel das Fleisch aufpicken und verschlingen, angefangen bei den Augäpfeln bis hin zum Mark der gebrochenen Knochen.“ Der erste Gedanke von Prudence ist es dann, Paul in die Arme zu nehmen.

Der Satz in „Vernichten“ mit der meisten Sprengkraft versteckt sich allerdings im Abspann des Romans. Am Ende seiner Danksagung notiert Houellebecq: „Grundsätzlich sollten französische Schriftsteller nicht davor zurückschrecken, mehr zu recherchieren; es gibt viele Menschen, die ihren Beruf lieben und den Laien gerne erklären, was sie tun.“ Darauf folgt besagte Sentenz: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“ Jammerschade, wenn die Krawallschachtel Houellebecq tatsächlich den Ruhestand anträte, der sanfte Wüterich der Welt abhandenkäme. 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.