Milo Raus „Everywoman“ bei den Salzburger Festspielen: Mehr Mitgefühl!

Die letzte Schauspielpremiere der heurigen Salzburger Festspiele: Milo Raus „Everywoman“ ist eine stille, aber auch redundante Neuinterpretation des „Jedermann“ geworden.

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Von Karin Cerny

Sogar Thomas Bernhard, nie um eine Provokation verlegen, zog vor dem Tod demütig den Hut: Es sei alles lächerlich, wenn man an diesen denke, sprach er, seither vielzitiert, in seiner Dankesrede, als er 1968 den Staatspreis für Literatur verliehen bekam. Und nach wie vor muss man sich fragen: Wie soll und kann man überhaupt über den Tod sprechen? Hat sich durch die Pandemie unser Blick auf die Sterblichkeit verändert? Der berühmte „Jedermann“, der alljährlich auf dem Salzburger Domplatz stirbt, die Cash Cow der Salzburger Festspiele, ist von jeher mehr Spektakel als Innehalten. Zelebriert wird eine wilde Party, auf der sich ein lebenshungriger Großindustrieller mit Händen und Füßen dagegen wehrt, seinen Reichtum aufzugeben. Dieser neureiche Jedermann ist alles andere als ein Durchschnittstyp. Wer kann sich damit identifizieren?

Der Schweizer Regisseur Milo Rau ist einer der großen Theaterdenker unserer Tage, er geht in die Welt hinaus, holt brutale, irritierende Realitäten auf die Bühne, wie im Vorjahr in seiner Festwochen-Inszenierung „Orest in Mossul“, in der er die griechische Tragödie mit dem zerbombten Irak kurzschloss. Rau möchte unseren Blick für Ausbeutung und Ungerechtigkeit schärfen, die Bühne als Diskussions- und Nachdenkforum nutzen. Umso überraschender ist seine "Everywoman", die er nun mit der Schauspielerin und Koautorin Ursina Lardi (Foto) entwickelt hat. Ein feministischer Blick auf den Stoff? Nein, dies wollen beide nicht, wurde schon im Vorfeld kommuniziert. Es soll „allgemeinmenschlich“ bleiben.

Plädoyer für mehr Mitleid und Sanftmut

Auf der Videoleinwand sehen wir in der Szene Salzburg nun eine Frau, die mit der Diagnose unheilbarer Krebs klarkommen muss. Mit sympathischer Berliner Schnoddrigkeit und beeindruckender Grandezza ist Helga Bedau in der vorproduzierten Einspielung präsent. Bei Recherchen in einem Hospiz haben die beiden Theaterleute die 71-Jährige gefunden. Beim Applaus wird sie später live auf der Bühne stehen und demonstrieren, wie man dem Tod trotzen kann - wahrscheinlich das stärkste Bild dieses stillen Abends, der mehr auf Sprache als auf Inszenierungseinfälle setzt. Lardi referiert mit extratrockenem Tonfall (nur kein Pathos!) Erinnerungen und Beobachtungen, reflektiert über den klassischen „Jedermann“, um gegen Ende ein Plädoyer für mehr Mitleid und Sanftmut zu halten. Sie träumt von einem Theaterabend, der alles erzählt, der imstande wäre, eine Person zur Gänze zu erfassen. Rau und Lardi gelingt dies nur in Ansätzen, viele Themenblöcke werden bloß angerissen, manches ist pseudopoetisch. Man hätte gern mehr Zeit mit Helga Bedau verbracht. Zwischen den beiden Frauen entsteht kein Zauber, der Abend wirkt über weite Strecken wie ein Schulreferat. Er lässt einen kalt. Erst gegen Ende, wenn die Hauptdarstellerin langsam im Video verschwindet, entsteht so etwas wie ein Gefühl für die Sterblichkeit, die eigene und die der anderen. Für die Wahrheit, dass vor dem Tod alles lächerlich, klein und unbedeutend wird.