Am Pult: Currentzis 2017 bei den Salzburger Festspielen

Muss man den Stardirigenten Teodor Currentzis canceln?

Und wer entscheidet eigentlich über „gute“ und „schlechte“ Russen in der Kultur? Ein Debattenbeitrag.

Drucken

Schriftgröße

Von Manuel Brug

Kennen Sie Hibla Gerzmava? Müssen Sie nicht. Seit 1995 ist die abchasisch-russische Opernsängerin als Solistin am Stanislawski-Musiktheater in Moskau tätig, sie trat auch in Wien, München, Paris, Rom und New York auf. In Barcelona, Paris und an der Metropolitan Opera hat sie weiterhin Verträge, obwohl sie in Russland nicht nur als „Verdiente Künstlerin“, als „Volkskünstlerin Abchasiens“ und „Volkskünstlerin Russlands“ ausgezeichnet wurde; im Februar 2014 durfte sie bei der Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele im russischen Sotschi singen. Gerzmava ist darüber hinaus eine glühende Putin-Anhängerin, ein Fixstern bei Kreml-Galas und sonstigen Festivitäten des Diktators.

Ihr Glück: Sie ist im Westen nicht sonderlich bekannt, trällert sich unter dem Politradar durch. Und obwohl einige Opernhäuser, etwa die Met, angekündigt haben, mit Putin-affinen Künstlerinnen wie Anna Netrebko nicht mehr zusammenarbeiten zu wollen, ist Hibla Gerzmava dort für April 2023 als Tosca angesetzt. Einen „Troubadour“ wird sie in Barcelona singen. Es scheint, dass gegenwärtig (und anders als im Sport) unter den kreativen Kräften im Opernbetrieb nur die berühmtesten sich erklären, von Putins Angriffskrieg sich distanzieren müssen, um im Westen weiter arbeiten zu können.

Der Dirigent Teodor Currentzis ist sehr bekannt. Und sehr umstritten. Der 50-jährige Grieche mit russischem Pass wurde in den 1990er-Jahren in der legendären Petersburger Dirigentenschmiede von Ilja Msuin gehärtet. Seit 2004 baute er sich am Theater in Novosibirsk, seit 2011 in Perm sein eigenes Orchester samt Chor auf: Currentzis’ MusicAeterna residiert seit 2019 in einem alten Rundfunkgebäude in St. Petersburg. Seit 2018 ist Teodor Currentzis außerdem Chefdirigent des SWR Symphonieorchesters in Stuttgart.

Der Mann polarisiert, durch Auftritte in Springerstiefeln und Punk-Frisur ebenso wie durch seine düstere Aura, vor allem aber auch durch sein Musizieren. Er verstört und begeistert zur gleichen Zeit. Aber die Menschen wollen ihn hören, weltweit. Auch deshalb haben sowohl Markus Hinterhäuser für die Salzburger Festspiele als auch Matthias Naske, Intendant  des Wiener Konzerthauses, Currentzis und seine Klangkörper zu einem Pfeiler ihrer künstlerischen Programme auserkoren. Man kann sich an ihm und seinem Stil reiben, nur eines ist er nie: alltäglich oder erwartbar.

Erwartbar war auch nicht unbedingt, dass ihn nun ein Shitstorm an Vorwürfen und Konzertabsagen ereilen würde. Aber eben weil sich an ihm die Geister scheiden, sehen manche Publizisten jetzt die Möglichkeit, ihn sturmreif zu schießen – weil sich Currentzis bislang nicht ausdrücklich zum Ukraine-Krieg positioniert hat und weil sein freies Orchester von der halbstaatlichen VTB-Bank gesponsert wird, die auf der EU-Sanktionierungsliste steht. Eine solche Finanzierung lässt sich nicht sofort ändern und lösen. Es braucht Zeit, sich neu aufzustellen, große Organisationen neu zu fundamentieren. Auch Sponsorengeld ist selten blütenrein, in Russland schon gar nicht. Derzeit können selbst die Salzburger Festspiele ein Lied davon singen.

Der pseudomoralische Druck der medialen Scharfmacher hatte Konsequenzen: Am Freitag zog sich Naske aus dem Stiftungsrat des russischen Orchesters zurück, zudem wurden bereits erste MusicAeterna-Konzerte gecancelt. In Wien sogar ein Benefizkonzert für die Ukraine im Konzerthaus. 

„Whitewashing“ würde Currentzis damit bloß betreiben, haben ihm einzelne Publizisten vorgehalten. Aber was sollte er in seiner Position, verantwortlich für ein multinationales Orchester aus Russen, Ukrainern, Belarussen und vielen Westeuropäern, die alle finanziell von ihm abhängen, im Augenblick sonst tun?

Currentzis hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn in Perm nicht das marode Theater einer Provinzmetropole,  das ihm und seinem Orchester Heimstatt war, finanziert hat, sondern lange auch Russlands größtes Ölunternehmen, die inzwischen verfemte Lukoil. Muss man ihn deshalb nun mit Putins Schattenkulturminister Valery Gergiev über einen Kamm scheren? Von Currentzis sind keine Unterschlagungen und Millionenbereicherungen bekannt. Es gab auch keine Liebesbezeugungen für Putin, keine Gefälligkeitskonzerte oder andere Dienste für ein schmutziges System. Dafür hat er sich stets für den Regimekritiker Kirill Serebrennikov stark gemacht.

Warum wird in diesem Kulturscharmützel also mit zweierlei Maß gemessen? Angesichts des Leidens in der Ukraine sollte man sich auch im Feuilleton lieber auf Wesentlicheres konzentrieren. Beim SWR hält man vorerst an Currentzis fest, in Wien liegen seine Projekte 2023 auf Eis. Im Notfall kann ja Hibla Gerzmava einspringen.