Anamaria Vartolomei in „Das Ereignis“
Kino

"Das Ereignis" und "Petite Maman" im Kino: Tagtraum und Höllentrip

Neues feministisches Kino aus Frankreich: Die Annie-Ernaux-Adaption "Das Ereignis" kreist um eine illegale Abtreibung, "Petite Maman" um eine kindlich-magische Mutter-Tochter-Utopie.

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Der weibliche Blick hat immer noch das Zeug zur Subversion. Als Gegenvorschlag zur dominanten, bedenkenlos akzeptierten männlichen Perspektive im Kino lässt er die Welt, die Dinge des Lebens anders wahrnehmen. Die Regisseurin Céline Sciamma, 43, bietet in Filmen wie "Mädchenbande" (2014) und "Porträt einer jungen Frau in Flammen" (2019) offensiv Alternativen zum chauvinistischen Blick an; ihre Filme sind stets auch Interventionen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit.


"Petite Maman", ihr jüngstes Werk, berichtet in ätherisch-naturalistischem Stil von einem Fantasieereignis: von der Zeitreise einer Achtjährigen zurück an die Seite ihrer Mutter, als diese so alt war wie sie selbst. Die Begegnung der beiden Kinder, buchstäblich auf Augenhöhe, ohne Hierarchien, definiert das Mutter-Tochter-Verhältnis liebevoll neu.

Je erfolgreicher Sciamma wird, desto zerbrechlicher und stiller scheint ihre Arbeit zu werden. "Petite Maman" ist ein zurückhaltender Film, eine kleine Produktion ohne große Dialoge und auftrumpfende Musik. "Nur weil ein Werk nicht teuer produziert wurde, heißt das ja nicht, dass auch seine Wirkung klein wäre",erklärt Sciamma im Rahmen des (sinnträchtig am Weltfrauentag stattfindenden) profil-Interviews: So sei "Petite Maman" eher "ein sehr unbescheidener Film",denn er verlange einiges an Interpretationsarbeit. "Ich lege es darauf an, dass man meine Filme nach Hause mitnimmt, sie sollen hartnäckig sein, in den Köpfen bleiben. Denn sie können einem helfen, mit dem Leben fertigzuwerden."

"Das Ereignis",die zweite Regiearbeit der Französin Audrey Diwan, 42, ist ein ganz anderer Film, obwohl auch er von weiblicher Selbstbestimmung erzählt; er wurde 2021 mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet. Der Titel meint eine Abtreibung, die eine ungewollt schwangere Studentin (Anamaria Vartolomei) zu erkämpfen sucht, obwohl dies in Frankreich anno 1963 kaum möglich scheint: Schwangerschaftsabbrüche sind illegal und mit immensen persönlichen Risiken verbunden, allein die Idee abzutreiben gilt als verfemt. "Das Ereignis" ist durchaus mitreißend inszeniert, und das Ensemble um Vartolomei agiert dynamisch. Diwan kontrolliert ihre Mittel, setzt nicht auf Pathos und Nostalgie, sondern auf Reduktion ("Verfeinerung", wie sie es nennt).Aber sie blendet vieles aus, verengt den Fokus auf die Mission ihrer Heldin, interessiert sich für sozialpolitische Hintergründe kaum; ihr Film besitzt Entschlossenheit, aber kein Geheimnis.
 

"Das Ereignis" beschreibt, als Adaption eines Erinnerungsromans der Autorin Annie Ernaux, 81, den Höllentrip in die misogyne Logik konservativer Gesellschaften. "Vor ein paar Jahren, nach einer eigenen Abtreibung, entdeckte ich das Buch von Ernaux", erzählte die einstige Journalistin Audrey Diwan während der Viennale im Oktober 2021. "Der Roman war 2000 erschienen, wurde damals wenig rezipiert. Als ich ihn endlich las, war ich schockiert und traurig darüber, wie gewalttätig und einsam Abtreibungen abliefen."

Annie Ernaux sei, so Diwan, an der Entstehung des Films intensiv beteiligt gewesen: "Sie las alle drei Versionen des entstehenden Drehbuchs. Aber sie akzeptierte, dass ich eine Adaption ihres Romans plante, keine Nachbildung; der Film sollte richtig sein: nicht künstlich, nicht demonstrativ." Ernaux war schließlich die erste Betrachterin des Films. "Ich zitterte, als die Vorführung begann. Glücklicherweise mochte sie meinen Film. Später schrieb sie mir in einem Brief, dass die Frau, die sie damals war, niemand besser hätte spielen können als Anamaria."

In Céline Sciammas Filmen findet man keine Gut-Böse-Schemata, keine Rivalität und Feindschaften. "Im Kino geht es, wohin man blickt, um Machtkämpfe, um klassische Dramen, die mich aber so wenig interessieren wie der Glamour einer Zeitreise",sagt Sciamma. "Ich glaube, dass es im Leben viel weniger Konflikte gibt als in der Fiktion." Die Themen, die sie in "Petite Maman" verhandelt, sind existenziell: Familie, Kindheit, Liebe, Zeit, Geburt, Tod. "Ein Kind sollte meinen Film ähnlich wahrnehmen, wie Erwachsene darauf reagieren: Alle Altersstufen sollten sich gleichermaßen respektiert fühlen."Ein Film, der Kinder erreiche, sei auch "eine Initiation zum Kino".

Die Filmkritik hat "Petite Maman",diesen zeitlosen Zeitreisefilm, unaufgelöst zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine "Geistergeschichte" genannt. Aber das trifft weder den Kern noch das Flair des Films, der eher als Tagtraum, als theoretisches Märchen oder Allegorie erscheint. Der legendäre japanische Trickfilmmeister Hayao Miyazaki, insbesondere dessen "Totoro" (1988),hat Sciamma hier stark beeinflusst. Die Arbeit mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz sei eine Frage des Vertrauens gewesen: "Man gibt ihnen Autonomie und sieht dabei zu, wie sie diesen Job, das Kino erlernen, ihre Angst verlieren. Es geht darum, safe spaces für sie zu schaffen-in der Fiktion und am Set-,ihrem Spiel keinerlei negative Gefühle, Gewalt oder Konflikte abzuverlangen." Der Plan ging auf.

 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.