Künstler Ai Weiwei
Interview

Ai Weiwei: „Wie können Sie Ihren Kindern nur ins Gesicht schauen?“

Ein Gespräch mit Ai Weiwei, Exil-Chinese und einer der renommiertesten Kunst- und Menschenrechtsaktivisten der Gegenwart über Lego und VW, China, Russland und die Scheinheiligkeit des Westens.

Drucken

Schriftgröße

Konzentriert lehnen Ai Weiwei und Elsy Lahner über den ausgedruckten Entwürfen zum Ausstellungskatalog. Der chinesische Künstler, geboren 1957 in Peking, und die Kuratorin der Albertina modern stehen an einem gigantischen Esstisch aus Holz, den Ai in seinem Atelier zum Arbeitstisch umfunktioniert hat. Lahner ist in den Alentejo im Süden Portugals gereist, um die letzten Details der großen Wiener Ai-Weiwei-Werkschau abzusprechen. Hier, zwischen idyllischen Hügeln und Steineichenwäldern, lebt der Konzeptkünstler und Menschenrechtsaktivist seit zwei Jahren in einem alten Landhaus im portugiesischen Hinterland. 

Die Ausstellung, die „In Search of Humanity“ heißen wird, präsentiert zwischen 16. März und 4. September in der Gegenwartskunst-Dependance der Albertina am Wiener Karlsplatz rund 140 Werke aus über 40 Jahren, aus allen Schaffensperioden des Künstlers: von Ais ersten Fotoarbeiten, die in den 1980er-Jahren in New York entstanden, bis zu seinen aktuellen Arbeiten, den aus Lego-Bausteinen gefertigten Werken über das Flüchtlingsdrama in Europa, seinen Videos zum Ausbruch der Corona-Pandemie in Wuhan und zur Unterdrückung der Demokratie-Proteste in Hongkong. Mit dabei auch Ais neue Lego-Arbeit: eine saudi-arabische Flagge, die in arabischem Schriftzug die letzten Worte des 2018 in Istanbul ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi wiedergibt: „Ich kann nicht atmen.“

Ais Werke drehen sich um Zensur, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Migration und Flucht. Natürlich fehlen in der Albertina modern auch seine berühmten „Überwachungskameras“ nicht oder die „Studies of Perspective“-Fotoreihe mit dem ausgestreckten Mittelfinger vor staatlichen Prestigeorten. Auch seine erstmals in der Londoner Tate Modern ausgestellte „Sunflower Seed“-Installation wird in Wien zu sehen sein. Ein Höhepunkt der Schau sind die sechs raumfüllenden „S.A.C.R.E.D“-Guckkästen, in denen Ai seine Haft nachstellte, nachdem das Regime in Peking ihn 2011 fast drei Monate lang eingesperrt hatte.

profil: Warum benutzen Sie in Ihren Werken neuerdings eigentlich so häufig Lego?
Ai: Ich versuche, meine ästhetische Praxis mit jeweils aktuellen politischen Situationen zu verbinden. Lego ist da sehr angemessen. Mein Sohn hat mich auf die Idee gebracht. Mit seiner farblichen Limitierung und seiner pixeligen Qualität bezieht sich Lego als Medium stark auf die Gegenwart, in seiner Mosaikform aber gleichzeitig auch auf unsere Vergangenheit. Ich habe Lego in den vergangenen acht Jahren in vielen Ausstellungen verwendet. Es ist eine fantastische Idee, sehr einfach zu verstehen und zu verwenden. Ich denke, selbst Rembrandt und Leonardo da Vinci würden heute mit Lego arbeiten.

profil: Eine Ihrer neueren Arbeiten ist die Lego-Installation „Illumination“, die ein Selfie nachbildet, das Sie bei Ihrer Verhaftung machen konnten. Auch die sechs „S.A.C.R.E.D“-Guckkästen, Nachbauten jener Zelle, in der Sie 2011 für 81 Tage in Peking saßen, werden in der Albertina modern zu sehen sein. Sie sind Chinas bekanntester Dissident. Sollten Sie jemals 
zurück in Ihre Heimat gehen: Fürchten Sie um Ihr 
Leben?
Ai: Nein. Dafür bin ich zu bekannt, und mir liegt Angst nicht besonders. Ich habe nur Angst davor, meinen Sohn nicht aufwachsen zu sehen. Oder dass meine Mutter vor Sorge stirbt, sollte ich erneut verhaftet werden. Deshalb beschloss ich auch, meine Erinnerungen zu schreiben. Ich wollte, dass mein Sohn einmal verstehen wird, wer ich war und was mir geschah.

profil: „In Search of Humanity“ lautet der Titel Ihrer Wiener Ausstellung. Wie suchen und finden Sie über Ihre Kunst Menschlichkeit?
Ai: In allen kulturellen Bereichen wird der Humanismus verteidigt. Wir müssen aufeinander aufpassen, uns um die Umwelt und andere Spezies kümmern. Aber die Menschlichkeit ist in unserer Gesellschaft und unserer Politik im Verschwinden begriffen. Wir müssen die Idee des Menschlichen neu definieren und auffrischen. Dabei kann die Kunst helfen.  

profil: Gibt es eine künstlerische Verantwortung, solchen Fragen nachzugehen?
Ai: Ich finde schon. Ich weiß nicht, ob meine Kunst Antworten geben kann. Sollte ihr das gelingen, ich wäre immens stolz auf sie. Ich glaube allerdings, meine Kunst ist dafür niemals gut genug.

profil: Ihre Wiener Retrospektive porträtiert Sie als Künstler und Menschenrechtsaktivisten. Welchen Einfluss hat Kunst auf den Zustand der Welt?
Ai: Leider sind wir relativ irrelevant.

profil: In Ihren jüngst erschienenen Memoiren schrieben Sie aber, autoritäre Staaten müssten die Kunst fürchten.
Ai: Das stimmt ja auch. Autoritäre Systeme funktionieren nach einem simplen Schema – eine Idee, ein Führer. Wenn alle in dieselbe Richtung gehen, wird das System stark. Aber Kunst handelt von individuellem Denken, sie bringt Menschen dazu, alternative Positionen einzunehmen. Dies erschüttert Autokratien in ihrer Grundstruktur.

profil: Sie meinen Staaten wie China oder Russland; China unterdrückt die Uiguren und die Demokratie in Hongkong, Russland vergiftet Oppositionelle wie Alexei Nawalny und greift die Ukraine an. Was kann man dagegen tun?
Ai: Man muss als moralisches Vorbild vorangehen. Aber das würde für die sogenannten westlichen Demokratien auch bedeuten, Whistleblower wie Julian Assange oder Edward Snowden nicht mehr zu verfolgen und freizulassen.

profil: In der Albertina modern werden Sie auch Ihr Readymade „Assanges Laufband“ von 2017 ausstellen, das Ihnen der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks geschenkt hat.
Ai: Julian ist ein politischer Gefangener. Er deckte mutig Staatsverbrechen auf. Ich habe ihn in London an seinem Zufluchtsort, in der ecuadorianischen Botschaft, besucht, um ihn zu unterstützen. Später schickte er mir sein Laufband. Zunächst wusste ich nicht, was ich damit machen sollte. Es ist ein ironisches Werk: Man läuft, kommt aber nicht voran. Ich habe mich auch beim Laufen gefilmt. „#RunForOurRights“ hieß die Aktion.

profil: In einem offenen Brief fordern Sie mit anderen internationalen Kulturpersönlichkeiten ein Ende der russischen Angriffe auf die Ukraine.
Ai: Jeder Krieg schadet der Menschheit. Ich wünschte, dieser Krieg wäre nie passiert. Aber er ist Realität. Also hoffe ich nun auf sein ehestmögliches Ende.

profil: Welchen Sinn ergibt künstlerischer Aktivismus angesichts des Ukraine-Krieges noch?
Ai: In der Kunst kann man nur seinen Pazifismus zum Ausdruck bringen, für Frieden und Humanität eintreten.

profil: Sollte man, wie es gerade geschieht, künstlerisch aktive Menschen dazu zwingen, sich politisch eindeutig zu positionieren?
Ai: Jede öffentliche Meinung, die andere dazu zwingt, ihre politischen Positionen zu äußern, ist beschämend. So beschämend wie der Krieg selbst.

profil: Wladimir Putin feierte noch im Februar bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking sein Bündnis mit China. Wie denken Sie über ihn? Ist er gefährlicher als das chinesische Regime?
Ai: Putin, China und der Westen stimmen ideologisch keineswegs überein, verhalten sich in vielerlei Hinsicht antagonistisch zueinander. Wer gefährlicher ist, lässt sich nicht sagen. Wir alle wissen, dass es auf der Welt etliche mächtige Nationen mit Nuklearwaffen gibt. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, darf niemals unterschätzt werden.

profil: Die EU, die USA und viele andere Länder boykottierten im Februar die Winterspiele aus Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen in China, indem sie keine politischen Vertretungen nach Peking entsandten. Zeigt der Westen China so die Stirn?
Ai: Der Westen liebt es, mit China Geschäfte zu machen. Nach innen müssen sie ihr Gesicht wahren, die Misshandlung politischer Gefangener verurteilen. Doch in einem Monat wird über die Olympischen Spiele niemand mehr reden. Das weiß China, und das weiß auch der Westen. Es ist alles lächerlich, so heuchlerisch. 

profil: Obwohl auch Österreich die Winterspiele diplomatisch boykottierte, sprach sich Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer gegen „eine Politisierung der Spiele“ aus.
Ai: Ich kenne seine genauen Worte nicht. Aber Olympia ist immer politisch. Das zeigten bereits die Spiele 1936 in Nazi-Deutschland. Es geht da immer um Patriotismus und Nationalismus. Es stimmt aber auch, dass ein politischer Boykott Olympischer Spiele kaum Auswirkungen hat.

profil: Sollte der Kunstbetrieb China boykottieren?
Ai: Das wird nicht funktionieren. Es wird immer Kunstschaffende und Museen geben, die für Geld in China Ausstellungen machen werden. Zeitgenössische Kunst wurde durch den globalen Kapitalismus kompromittiert, ist zu einer Form der Unterhaltung verkommen. Sie muss ihre soziale Seite neu beleben.

profil: Seit 2004 drehen Sie dokumentarische Arbeiten über politische und soziale Missstände. In Ihrem Film „Cockroach“ klagen Sie China an, die Demokratie-Proteste unterdrückt zu haben. Auch „Coronation“ ist in Wien zu sehen, eine Produktion über den Beginn der Pandemie.
Ai: China ist ein Pionier in Sachen staatlicher Kontrolle. Andere Regime versuchen, China auf seinem Weg, das Verhalten der Menschen zu kontrollieren, zu folgen. „Coronation“ ist der erste Film, der zeigt, was wirklich in Wuhan passierte. Ich kritisiere mit meiner Kunst jedoch nicht China an sich, nur gewisse Aspekte dieses Staates. Das Problem sind ja nicht nur China oder Russland. Es ist der Kapitalismus, der die Welt zerstört. 

profil: Mit Dokumentarfilmen wie „Human Flow“ oder „Idomeni“ gehen Sie hart mit der Flüchtlingspolitik Europas ins Gericht. In einem aus Lego-Bausteinen produzierten Werk namens „After the Death of Marat“ stellten Sie 2018 das Foto des ertrunkenen syrischen Flüchtlingskinds Alan Kurdi nach, das 2015 die Welt erschütterte. Ein anderes Ihrer Bilder zeigt die Navigationsroute des deutschen Seenotrettungsschiffs Sea-Watch 3, das 2019 mit afrikanischen Flüchtlingen an Bord wochenlang umherirrte, weil kein Hafen es aufnehmen wollte.
Ai: Wie Polen, Tschechien und Österreich die Flüchtlinge behandelten, war scheußlich. Darauf kann man nicht stolz sein. Auch Italien und andere Länder drängten die Menschen wieder aufs Meer zurück. Menschen, die auf der Flucht waren. Und man sah zu, wie sie starben. Ist das Mitgefühl? Wie können Sie Ihren Kindern nur ins Gesicht schauen? Man sperrte Millionen schreiender und sterbender Kinder in Lager. Ich bin rund um die Welt gefahren, um 40 Lager in 20 Ländern zu besuchen. Ich spreche von Fakten.

profil: In Ihren Memoiren berichten Sie viel über Ihren Vater, den Poeten Ai Qing. Welche Bedeutung hatte er für Ihr Kunstverständnis?
Ai: Enorme Bedeutung. Er war ein großer Dichter, liebte sein Land und sein Volk, er war eine Stimme der Gerechtigkeit. Nichts war für ihn wertvoller, als für die Freiheit zu kämpfen. Das hat mich tief geprägt.

profil: Wie wichtig ist das Schreiben, die Sprache in Ihrer Kunst?
Ai: Sehr. Malerei, Filme, Skulpturen – alles hat mit Sprache zu tun. Abgesehen vielleicht von „Fairytale“, als ich 2007  im Rahmen einer Aktion 1001 Chinesen zur Documenta nach Kassel brachte, ist das Schreiben online und in Blogs meine wichtigste Arbeit überhaupt. Ich investiere 80 Prozent meiner Energie ins Internet, 20 Prozent in die Kunstproduktion. 

profil: Sie stellen Installationen, Skulpturen, Filme her. Sie zeichnen, fotografieren, schreiben. Wo liegt Ihr größtes Talent?
Ai: Mein größtes Talent ist es, verstehen zu können, dass ich keinerlei Talent besitze. Das ist ein guter Ausgangspunkt, um zu neuen Ufern aufzubrechen.

profil: Sie debütieren in wenigen Tagen auch als Opernregisseur, inszenieren Puccinis „Turandot“ im römischen Teatro dell’Opera.
Ai: Das war nicht leicht. Puccini ist ein großartiger Komponist, die Story ist vorgegeben. Da ist nicht viel Spielraum für Veränderung. Aber man kann die Vorgaben auf eigene Weise interpretieren. Es wird um China, Migration, Macht und Klassenkampf gehen. 

profil: Opern in Rom, Ausstellungen in Wien und Cambridge. Ihr Studio befindet sich in Berlin, Ihre derzeitige Residenz hier in Portugal. Wo genau entsteht Ihre Kunst?
Ai: Es gibt keinen bestimmten Ort dafür. Ich stelle Kunst in meinem Badezimmer her, während ich koche, auf dem Flughafen oder im Hotelzimmer, auf Reisen. Ich brauche dafür kein Studio.

profil: Und warum leben Sie nun ausgerechnet in einer Kleinstadt im Hinterland Portugals?
Ai: Ich bin jetzt 64, in einem Alter, in dem man sich vom Lärm gerne zurückzieht. Auf dem Dorfmarkt fragte mich letztens eine Frau, warum ich eigentlich gerade nach Montemor-o-Novo gekommen sei. Es gäbe doch so viele Orte. Ich sagte ihr, ich wüsste es nicht. Ich muss es erst noch herausfinden. New York, London und Berlin waren so überfüllt. In Berlin machte ich meine Augen nur auf, um nicht von Fahrradfahrern überfahren zu werden. In Deutschland und England fühlte ich mich nicht sonderlich wohl. Aber dieser Ort hat etwas Friedliches. Ich kannte Portugal vorher nicht. Das Licht gefiel mir. Die Menschen sind freundlich und ehrlich. Während der Vorbereitung zu einer Ausstellung in Lissabon begann ich, mich nach einem Haus umzuschauen. Ich kam nur für einen Tag hierher. Als Erstes sah ich dieses Landhaus hier – und wollte es augenblicklich kaufen. Nun habe ich endlich den Sonnenschein, den ich in den letzten Jahren so vermisst habe. Und Neustarts sind immer gut. Auch um andere Ausdrucksformen zu finden.

profil: In Portugal fühlen Sie sich wohl. Deutschland beschrieben Sie dagegen als unfreundlich, intolerant und fremdenfeindlich. So zogen Sie 2015 von Berlin über Cambridge hierher. Was störte Sie an Deutschland so sehr?
Ai: Es ging mir gut in Deutschland. Ich habe in Berlin immer noch mein Atelier, hatte meine größten Ausstellungen in Deutschland – auf der Documenta und im Martin-Gropius-Bau. Natürlich sehen mich jetzt viele als Verräter, sind schockiert. Aber man erwartet von mir offenbar nur Hymnen: Ich darf sagen, dass die Deutschen mein Leben gerettet haben, aber ihre Deals mit China darf ich nicht kritisieren. Sie benutzen mich, um zu zeigen, dass ihnen die Menschenrechte am Herzen liegen. Gleichzeitig produzieren die größten Unternehmen des Landes, etwa Volkswagen, ihre Ware aber selbstverständlich in China. 

profil: In Ihren Erinnerungen schreiben Sie, dass Sie Ihrer Mutter bereits in den 1980er-Jahren in New York versprachen, ein zweiter Picasso zu werden …
Ai: … und schon damals lachte sie mich dafür aus. Sie liebt mich. Aber sie würde, was ich mache, niemals als Kunst bezeichnen.

profil: Warum nicht?
Ai: Weil sie ein klassischeres Verständnis von Kunst hat. Für sie hat Kunst mit Schönheit zu tun.

profil: Für Sie nicht?
Ai: Mir liegt die Hässlichkeit näher. Wenn man unsere Welt genauer betrachten will, kann es nicht um Schönheit gehen, sondern um einen Kampf, ums Überleben.

profil: Sie arbeiten mit Fahrrädern, Rettungswesten, Sonnenblumen aus Porzellan. Warum benutzen Sie derart unterschiedliche Materialien?
Ai: Um die Kunstkritiker zu verwirren, die ihr Leben lang versuchen, zu begreifen, was ich tue. Ich komme aus einer verwirrten Gesellschaft, insofern muss ich auch selbst verwirren.