Kultur

Pionierin der reinen Form: Die expressionistische Künstlerin Gabriele Münter

Einst bespuckt, heute gefeiert: Das Wiener Leopold Museum zeigt die farblich intensiv glühenden Gemälde der Künstlerin Gabriele Münter. Ihr Werk revolutionierte das Sehen – doch die Anerkennung kam erst spät.

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Die Verstörung muss groß gewesen sein, als 1909 in München eine Gruppe junger Malerinnen und Maler auf den Plan trat – mit einer ganz neuen Art, die Welt zu sehen. Aufgebrachte Gäste bespuckten ihre Bilder sogar.

Nebst Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Marianne Werefkin stellte damals auch Gabriele Münter aus. Die 1877 in Berlin geborene, in deutschen Kleinstädten aufgewachsene Malerin sollte in ihrem 85-jährigen Leben viele Stationen durchlaufen, geografisch wie stilistisch. Nun zeigt das Wiener Leopold Museum, das derzeit auch mit einer Schau ihres Zeitgenossen Max Oppenheimer punktet, als erste österreichische Institution eine groß angelegte Ausstellung der Meisterin. Sie war Mitbegründerin der Gruppe „Der Blaue Reiter“, jener einflussreichen Münchner Künstlervereinigung, die den Expressionismus miterfand. Der Kunsthistoriker Ivan Ristić, der die Ausstellung kuratiert hat, gliedert die Ausstellung in zwölf „Themeninseln“, die Münters Wandelbarkeit hervorstreichen.

Gestürzte Perspektiven

Bis heute bestechen ihre Werke in glühender Farbigkeit und scharf konturierten Kompositionen. Ihre „Gerade Straße“ von 1910 führt den Blick pfeilschnell an den Horizont, vorbei an einem abstrahierten Haus und Bäumen, deren Kronen zu einer grünen Masse zusammenwachsen. In einem anderen Gemälde knallt ein gelbes Haus aus einem Ensemble von Gebäuden, die sich auf einem Hügel aneinanderfügen und zu wackeln scheinen, als wären sie leicht angesäuselt.
Mit solchen Malereien warfen Münter und die anderen Mitglieder des „Blauen Reiter“ einen völlig neuen Blick auf die Welt. Plötzlich erschienen Farben nicht mehr natürlich, stürzten Perspektiven, und man rückte in den Vordergrund, was zuvor in der Kunst bestenfalls an den Rändern der Wahrnehmung existiert hatte – etwa die Volkskunst, besonders die Hinterglasmalerei, sowie die Kinderzeichnungen, die Münter bisweilen sogar in Gemälde einbaute. Es war nicht weniger als eine Revolution des Sehens.

Gabriele Münter hatte bereits ein unkonventionelles Leben hinter sich, als sie 1901 nach München kam, um zu studieren. Als Tochter wohlhabender Kaufleute, die aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt waren, reiste sie in ihren frühen Zwanzigern durch Amerika, wo sie völlig neue Eindrücke gewann. Die Fotografien, die sie dort machte, würden schon für einen Eintrag in Kunstgeschichte-Lexika reichen. Und sie fuhr gern mit dem Rad – was damals für Frauen und junge Mädchen nicht vorgesehen war. Aus den USA nahm sie, wie Ristić erklärt, „etwas von dem dortigen Pioniergeist mit“. Gemeinsam mit anderen sollte sie später im oberbayerischen Murnau eine Künstlerkolonie gründen.

Zunächst aber studierte Münter in München Kunst. Dort stand sie jedoch vor Hürden: An der Kunstakademie waren Frauen nicht zugelassen, mit bizarren Begründungen. In einer Zeichnung der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ heißt es 1901: „Es gibt zwei Arten von Malerinnen: Die einen möchten heiraten, und die anderen haben auch kein Talent.“ Der Theoretiker Karl Scheffler dagegen führte streng wissenschaftliche Gründe gegen weibliche Kunst ins Treffen. Um künstlerisch tätig zu werden, müsse die Frau nämlich „männisch“ werden. „Bis zu gewissen Graden vermag sie das zu tun; niemals aber kann sie in Fühlen und Denken so männlich werden, um selbstständige Meisterwerke zu schaffen.“ Deshalb sei „die“ Frau „die geborene Dilettantin“.

Immerhin gab es die „Damen-Akademie“, die Münter besuchte, eine eher dröge Anstalt. Später wurde sie auf die Malgruppe Phalanx und die dazugehörige Schule aufmerksam, wo Kandinsky unterrichtete. Mit dem verheirateten Kollegen, der als einer der ersten abstrakt malte, hatte sie eine mehrjährige Affäre – man lebte zeitweise auch zusammen. Davon profitierten beide künstlerisch. Für Münter wurde es jedoch zum Bumerang: Bis heute wird stets sofort diese Liebschaft erwähnt. Selbst das Leopold Museum verkündet schon im allerersten Satz seiner Vorschau, dass sie „weit mehr als die „Frau an der Seite Kandinskys“ gewesen sei. Dabei ist sie selbst „eine der Wegbereiterinnen der frühen Moderne“, wie ihre Biografin Karoline Hille schreibt.

Ungebrochene Farben

Münters avantgardistisches Werk wurde wesentlich inspiriert von dem 2500-Seelen-Ort Murnau, wo sie sich ab 1908 regelmäßig aufhielt. Die farbenfrohen Gebäude und die facettenreiche Landschaft führten, wie Kurator Ristić im Ausstellungskatalog anführt, zu einer neuen Wahrnehmung der Farbe: „Bald verwandelten sich in den Gemälden Dächer, Hausfassaden und Wiesen der Murnauer Umgebung in Kompositionselemente aus ungebrochenen Farben.“

Die Künstlerin selbst hielt in ihrem Tagebuch fest, dass sie einen Sprung gemacht habe vom Abmalen der Natur „zum Fühlen eines Inhaltes – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes.“ Auch auf die Volkskunst wird sie dort aufmerksam. „Münter näherte sich in ihrer bodenständigen Art mit viel Respekt der volkstümlichen Tradition“, so Ristić. „Gleichzeitig war sie draufgängerisch und suchte die Unabhängigkeit.“

Die Zeit des Ersten Weltkrieges verbrachte sie, nach der Trennung von Kandinsky, in Skandinavien, lernte dort Schwedisch und Dänisch. Die Rückkehr nach München bereitete Schwierigkeiten. „Mit meiner Kunst geht es mir als alleinstehender Frau auch dreckig – geschätzt, verstanden wird mein Talent ebenso wenig wie meine Person, und dass ich zu den Pionieren der neuen Kunst gehört habe, ist längst vergessen“, notierte sie 1922. „Die mit und hinter mir standen, sind jetzt lauter Berühmtheiten, ich bin aus allem heraus – eine von tausend malenden Frauen, die nirgends dazugehört und nirgends zur Ausstellung kommt.“ Im Alter vollzog sie noch einen deutlichen Schwenk in ihrer Kunst: Ihre farbigen Kompositionen wurden plötzlich abstrakt. Ein Aspekt ihres Œuvres, der lange kaum gewürdigt wurde, in der Wiener Ausstellung aber nun ausführlich thematisiert wird.

Kandinsky, so schrieb sie, habe ihr prophezeit, „dass spät, aber sicher, die allgemeine Anerkennung kommen werde.“ Daran erinnerte sie sich, als sie mit fast 80 Jahren den Münchner Kulturpreis erhielt. In jener Stadt, wo man ihre Bilder einst bespuckt hatte.

Nina   Schedlmayer

Nina Schedlmayer