Der Vorarlberger Sänger, Autor, Drehbuchautor und Filmemacher Reinhold Bilgeri am 29. August 2023 in seiner Lochauer Wohnung.
Zeitgeschichte

Rockstar Reinhold Bilgeri über seinen Vater, den Wehrmachtsdeserteur

Rudolf, der Vater des Vorarlberger Rockstars und Regisseurs Reinhold Bilgeri, desertierte 1944 unter Lebensgefahr aus der Wehrmacht. Eine Geschichte von Mut und Überlebenskampf.

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Papa, sagt Reinhold Bilgeri, wäre so stolz gewesen. Das Buch hätte ihn gefreut. Man tritt dem Sänger, Filmemacher und Autor nicht zu nahe, wenn man schreibt, dass Bilgeri in seinem Lochauer Wohnzimmer gelegentlich mit den Emotionen kämpft.

Bei den Partisanen in Athen,das Buch, über das Bilgeri spricht, ist wissenschaftliche Recherche, historische Chronik, Zeugnis beträchtlichen Mutes, eine Art Zeitkapsel, die erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird: Reinhold Bilgeris Vater Rudolf schrieb seine Tagebuchblätter vor 75 Jahren in englischer Kriegsgefangenschaft, in einem ägyptischen Wüstenlager nahe der sogenannten Bitterseen. Sie bieten einen unverstellten Blick auf Besatzung und Partisanenkampf, Menschenhatz und Desertion, Kadavergehorsam und Tapferkeit unter Todesgefahr. Bei den Partisanen in Athen versammelt Rudolf Bilgeris Gedichte, Berichte aus den Jahren 1944 bis 1946, Zeichnungen, Familienfotos und Bilder seines Soldatendiensts in Saloniki und Athen sowie der Kriegsgefangenschaft in Ägypten.

Reinhold Bilgeri steuerte ein kurzes Nachwort bei. In seiner Wohnung mit Blick auf den Bodensee erinnert er sich einen verregneten Augustnachmittag lang an seine Eltern. Vater Rudolf (1907-1992) war ein großer Schweigekünstler, Mutter Ilse, die ihren Ehemann um 20 Jahre überlebte und 2012 im Alter von 101 starb, von Gottesfurcht und anderen katholischen Tugenden erfüllt. Rein und hold, so habe sich Ilse ihren Sohn gewünscht, lacht Reinhold Bilgeri. Alle sechs Kinder der Bilgeris tragen den Zweitnamen Maria.

Das Schatzbuch

Wie ein Schatz sei des Vaters Bericht innerhalb der Familie herumgereicht worden, erinnert sich der Sohn, ganz in Schwarz, die obligate Sonnenbrille im Gesicht, das hartnäckige Augenleiden. Reinhold Bilgeri, 73, kapert keine Sekunde lang die Leidensgeschichte seines Vaters, er macht aus Rudolf keinen Helden. Der Sohn versucht noch immer das Ausmaß jenes Unglücks zu verstehen, das sich entfaltete, als man Rudolf Mitte Juli 1943 aus seinem Leben als Hohenemser Hauptschullehrer riss und in den Kriegseinsatz schickte, Festungs-Nachrichten-Stab 23 in Saloniki, später in Athen als technischer Zeichner von Schaltplänen für Verteidigungsanlagen. Am 3. September 1944 desertierte Bilgeri in Athen, entledigte sich der verhassten Uniform“ eines Gefreiten der Wehrmacht, lief zu den griechischen Partisanen über. Heilige Stille, nur mein Herz schlägt hörbar, bis zum Hals hinauf, ist über die Flucht in Bei den Partisanen in Athen" zu lesen: Jeder Nerv ist gespannt. Rudolf Bilgeri war sich der Gefahr bewusst. Werden wir verfolgt und eingefangen, dann ist's aus mit dem Leben. Dass wir dann vors Kriegsgericht und kurzerhand auch an die Wand gestellt werden, ist uns klar.

Rudolf Bilgeri war einer von 800 namentlich bekannten Deserteuren unter den 94.000 einberufenen Tiroler und Vorarlberger Soldaten. Eine quälend lange Zeit mussten jene, die unter Todesgefahr desertierten-auf Fahnenflucht stand die Hinrichtung, Zuchthausstrafen waren nur in minderschweren Fällen vorgesehen-auf Wiedergutmachung warten: 2009 beschloss das österreichische Parlament das Aufhebungs-und Rehabilitationsgesetz, 64 Jahre nach Kriegsende.

Waldheim in Griechenland

Bei den Partisanen in Athen lenkt den Blick wieder auf Österreichs Mitwirkung an NS-Verbrechen in Griechenland; auf die Verfälschungen und Verdrehungen des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der ab 1942 in Saloniki als Nachrichtenoffizier dem Stab des 1947 hingerichteten Kriegsverbrechers Alexander Löhr angehörte. Waldheim schrieb Berichte über den Fortschritt bei der Bandenbekämpfung‘“, notieren die Bei den Partisanen-Herausgeber Peter Pirker und Ingrid Böhler: Sie kaschierten, dass bei diesen Aktionen nicht bloß Partisaninnen und Partisanen, sondern auch wahllos und willkürlich festgenommene Zivilistinnen und Zivilisten zur Abschreckung, Terrorisierung und kollektiven Vergeltung erschossen, Dörfer geplündert und gebrandschatzt wurden.

Der Schweigekünstler

Sei damals wie von höchster Stelle der Befehl gekommen, über die Desertion des Vaters unbedingt zu schweigen, umso mehr muss Reinhold Bilgeri heute darüber reden. Er erinnert sich an Rudolf als angenehm leisen Mann, der manchmal mit Zorn und Bitterkeit darauf reagierte, dass ihm die Nachkriegskarriere verwehrt blieb. Rudolf promovierte und wollte Gymnasialdirektor in Feldkirch werden. Wehrmachtsdeserteure wurden als Verräter und Feiglinge denunziert, sagt Reinhold Bilgeri. Das Intrigieren und Schikanieren war das ideologische Werkzeug der Altnazis, das die ehemaligen Deserteure zum Leisetreten verurteilte. Wer damals Idylle sagte, meinte auch immer Verdrängung. Im damaligen Vorarlberg wimmelte es von Nazis, wie überall, sagt Reinhold BilgeriBereits 1948 hatte die Denazifizierung praktisch geendet. Als Bub merkte ich, dass Papa damit zu kämpfen hatte. Uns Kindern erzählten die Eltern natürlich nicht, dass Vater im Dorf wieder einmal als vermeintlicher Vaterlandsverräter scheel angeglotzt worden war.

Im britischen Gefangenenlager bei den Bitterseen, in dem Bilgeri bis zu seiner Rückkehr nach Hohenems im Jänner 1947 eingesperrt blieb, gab es sogenannte Nazi-Cages, Sammellager für ehemalige Soldaten der Hermann-Göring-Division und der SS. Politische Gegner und missliebige Elemente führen darin ein Höllenleben,notiert Rudolf Bilgeri. Was ihnen blüht, sind Schläge, Zwangsarbeit, Steine schleppen, ein grausames seelisches und körperliches Martyrium und manchem ein entsetzlicher Tod.“ Im Nachwort von Bei den Partisanen in Athen schreibt Reinhold Bilgeri: Ein letzter erbärmlicher Beweis, wie nachhaltig die Ideologie des Diktators wirkte, zumal sich dieser Ungeist von Generation zu Generation weitertradieren sollte, um schließlich im Sammelbecken des Dritten Lagers und auch anderswo weiterzuleben, in geschöntem Vokabular und verbrämt mit neuen Codes, aber unausrottbar, bis heute.

Der Vater war eine ferne Figur, Kind seiner Zeit, das seine eigenen Kinder selten in die Arme nahm. Er war kein offensiv lieber Papa, eher eine introvertierte Person. Der Vater besuchte kein einziges meiner 3000 Konzerte. Es war ihm nie recht, dass ich ausscherte, die Reputation unserer Akademikerfamilie anpatzte. Da war viel Reibung und Streit. Ich habe ihm schon sehr früh mitgeteilt, dass es mir genau darum geht: Papa, ich bin leider ein Rocker. Ich werde Rockstar, Schriftsteller und Filmemacher.‘ Er war die personifizierte Korrektheit. Ich ein Hallodri vor dem Herrn.

Lochauer Mick Jagger

Reinhold Bilgeri ist bis heute ein Mann vieler Begabungen und Leidenschaften. Er hat den Bestseller Der Atem des Himmels geschrieben und daraus einen erfolgreichen Kinofilm gedreht, als Rockprofessor in bizarrer Kostümierung-Langhaarmähne, Netzleibchen, Stöckelschuhe-war er Goldene-Schallplatten-Sammler. Er schreibt gerade an einem Drehbuch für einen Film über den Juli 1914, als Kaiser Franz Joseph in Bad Ischl die Kriegserklärung an Serbien unterzeichnete, und parallel dazu an seinem neuen Roman Das Gewissen der Tauben, einer weit ausholenden NS-Geschichte. Bilgeri schwärmt in seinem Wohnzimmer vom Philosophen Peter Sloterdijk, nur um Sekunden später aufzuspringen, um den Lochauer Mick Jagger zu geben. Was der Sänger der Rolling Stones mit 80 auf der Bühne treibe, dazu sei er, Bilgeri, kein Mann von kleinem Ego, noch längst fähig. Jagger-Posing im Wohnzimmer. Hinternwackeln. Ein wilder Hund, das sagt Bilgeri als Lob gern über andere. Es gilt auch für ihn.

Es muss vor 60 Jahren gewesen sein, als Reinhold Bilgeri erstmals im Kriegstagebuch seines Vaters blätterte. Papa sagte zu uns: Ich habe das aufgeschrieben, lest es-und dann eine Ruh! Er hat über seine Desertion dann tatsächlich eisern geschwiegen. Wie aber hat Rudolf den Mut für sein Standhalten gefunden? Das wichtigste Motiv war wohl die Liebe zu seiner Frau Ilse, sagt Reinhold Bilgeri. Sie war das Zentrum seines Lebens, dann erst kamen wir Kinder, denen gegenüber er öfter abwesend wirkte. Die Liebe zu Ilse war der Grund, sein Leben zu riskieren. Vater war kein Angeber, der mit seiner Tat prahlte. Nicht wie die unseligen Kameradschaftsbündler, die mit ihren Gräueltaten noch Jahrzehnte später protzten. Papa tat es für seine Frau.


Rudolf Bilgeri starb, ohne dass sich jemand von offizieller Seite bei ihm entschuldigt hätte. Ihm wurde außerhalb der Familie nie auf die Schultern geklopft für seinen Mut, sich gegen die Nazis gewandt zu haben. Er wollte stets ein korrekter Mensch sein. Als solcher kann man Hitler und seine Bagage nur hassen. Er fand den Mut zur Desertion aus innerer Charakterstärke heraus: Er wollte für dieses Schwein mit Schnurrbart weder töten noch sterben müssen! Rudolfs Fahnenflucht sei für seinen Sohn Reinhold stets ein Kraftquell gewesen. Er leistete Widerstand, als viele einknickten. Reinhold Bilgeri war auf Rudolf stets stolz.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.