Reisefieber: Seidi Haarla, Charakterdarstellerin in "Abteil Nr. 6"
Kino

"Abteil Nr. 6" im Kino: Amour fou auf Schienen

In seinem erst gefeierten, dann vielfach gecancelten Russland-Reisefilm "Abteil Nr. 6" entwickelt der finnische Regisseur Juho Kuosmanen eine unsentimentale Romanze.

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Die diesem Film beigemischten Pop-Klassiker "Love is the Drug" und "Voyage Voyage" bringen gekonnt auf den Punkt, wovon er berichtet: "Abteil Nr. 6" ist Expedition und Amour fou in einem, ebenso zart wie mitreißend, gerade weil für Verkitschung hier kein Platz ist. Die Erzählung kreist um ein ungleiches Paar, das-unterwegs von Moskau nach Murmansk-in einem engen Zugabteil aneinandergerät. Der junge russische Schauspieler Yuri Borisov, der letzthin ein Karrierehoch erlebt hat, brilliert als zunächst betrunken lärmender Reisebegleiter einer alarmierten Archäologin (Seidi Haarla).
 

Die Kriegsereignisse in der Ukraine haben "Abteil Nr. 6" nun rekontextualisiert: Einige Festivals haben den in Cannes mit einem Hauptpreis ausgezeichneten Film bereits aus ihren Programmen genommen, sagt Regisseur Juho Kuosmanen, 42, der diese finnisch-russisch-estnisch-deutsche Koproduktion nach einem Roman der Autorin Rosa Liksom geschrieben und inszeniert hat. In Deutschland erwog man kurzfristig sogar, den Kinostart zu canceln. Kuosmanen versteht das alles sogar, auch wenn es "klar betrachtet keinerlei Sinn ergibt".Aber "die Schrecken des Moments lassen uns derzeit eben nicht klar denken. Es gehört zu Putins Propaganda, dem Westen Russophobie zu unterstellen. Wir gehen ihm also auf den Leim, wenn wir nun tatsächlich alles Russische verbieten." Laut Kuosmanen hält sich sein Hauptdarsteller gegenwärtig in Russland auf, "klarerweise schockiert von den Ereignissen".Mehr will oder kann er dazu in Abwesenheit Borisovs nicht sagen, nur so viel: "Unsere russische Produzentin, Natalya Drozd, hat ihr Land verlassen, weil sie für sich keine Zukunft in Russland mehr sieht; sie hat sich vehement gegen den Krieg ausgesprochen."

Kuosmanen gelingt in seinem zweiten Spielfilm jedenfalls Großes: Der Film mag nach billigem Alkohol, Zigarettendunst und ungelüfteten Wartezimmern stinken, aber sein Zauber liegt eben nicht in Veredelung und Beschönigung, sondern in seiner Wärme, seiner Gelassenheit und der Präzision seines Blicks.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.