Gerhard Roth unterwegs in der Südsteiermark.
„Das Paradies ist eine Fälschung“

Schriftsteller Gerhard Roth: „Das Paradies ist eine Fälschung“

Schriftsteller Gerhard Roth über die Katastrophe als Kitt der Gesellschaft.

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Interview: Christa Zöchling

profil: Sie galten lange Zeit als moralische Instanz. Sie warnten vor Antisemitismus und Fremdenparanoia und gingen mit Jörg Haider und den aufkommenden Freiheitlichen scharf ins Gericht. Inzwischen ist es still um Sie geworden. Gerhard Roth: Ich habe die Auseinandersetzungen mit den politischen Ereignissen in Österreich eigentlich schon lange satt. Mein Herz gehört den Menschen, die in stiller Armut leben. Es muss mehr an jene gedacht werden, die am Rande der Armut oder in Armut leben: alte Menschen mit Mindestpensionen, alleinerziehende Mütter, arbeitslose Jugendliche. Ich denke auch an die vielen Flüchtlinge. Solange es die Sozialgesetze ohne Verschlechterung für alle, die sie brauchen, ermöglichen, sollen wir auch Flüchtlinge aufnehmen. Und es muss jeder, der hier lebt, die gleichen Chancen haben. Wenn die Sozialdemokratie in dieser Frage nachgibt, verrät sie einen ihrer wichtigsten Grundsätze.

profil: Das wäre nicht das erste Mal. In den 1990er-Jahren attestierten Sie der SPÖ im Umgang mit der Ausländerfrage „geistigen Notstand“. Roth: Meine Zwischenrufe haben mir genügend Schwierigkeiten eingebracht. Was im vergangenen Jahr infolge des Flüchtlingsstroms geschah, im Guten wie im Bösen, war vorauszusehen. Die Menschen kämpfen um ihr Revier wie die Tiere. Auf meinen Wanderungen komme ich an drei Teichen vorbei. Fremde Wildenten werden von den bereits dort lebenden gnadenlos verjagt. Die Menschen sind nicht viel besser.

Gedacht wurde dabei zumeist an das Paradies, herausgekommen ist die Hölle.

profil: Wäre es nicht die Kulturleistung des Menschen, genau das nicht zu tun? Roth: Der Mensch ist kein Tier und nicht allein biologisch zu erfassen, doch alle sinnstiftenden Systeme, alle politischen Ideologien, alle Weltreligionen haben in der Geschichte die größten Grausamkeiten begangen – immer im Namen einer zukünftig besseren Welt. Gedacht wurde dabei zumeist an das Paradies, herausgekommen ist die Hölle.

profil: Wie beurteilen Sie die Ideologie der FPÖ? Roth: Die Partei, die das Eigene hochhält, die sagt: „Unser Geld für unsere Leut.“ Eine Partei, die nach diesem Grundsatz handelt, vertritt einen nationalen Sozialismus. Anders kann ich das nicht benennen – auch wenn mir wieder Rache-Aktionen ins Haus stehen, wie es schon einmal unter der schwarz-blauen Regierung der Fall war, als plötzlich Steuerprüfer vor der Tür standen und eine, nachträglich als falsch erwiesene, absurde Vorschreibung geeignet gewesen wäre, meine Existenz zu vernichten.

profil: Wie sehen Sie in die Zukunft? Roth: Ich bin Pessimist. Samuel Beckett schrieb in seinem Roman „Murphy“: „Anything that can go wrong will go wrong.“ Alles, was schlecht ausgehen kann, geht schlecht aus. Ich lache darüber, aber es ist auch was Wahres daran.

profil: Lässt der Präsidentschaftswahlkampf Sie kalt? Roth: Nein. Ich wehre mich gegen meinen Pessimismus und wähle Van der Bellen. Die Grünen vertraten anfangs eine Ideologie, von der ich dachte, sie könnte auf der ganzen Welt Folgen haben. Sie waren Träumer, jetzt sind daraus oft besserwisserische Funktionäre und Funktionärinnen geworden, die manichäisch darüber entscheiden, was gut und was schlecht ist. Van der Bellen ist in seiner geistigen Haltung „einer von uns“ geblieben.

Selbst nach einem Hitler, einem Stalin oder einem Pol Pot hat sich daran nichts geändert.

profil: Sie glauben an vorausahnendes Schreiben. Woran arbeiten Sie? Roth: Es geht in meinem neuen Roman um die Suche nach dem Paradies. Das Paradies ist jedoch eine Fälschung. Das heißt: Ich muss Wahrheit und Wirklichkeit fälschen, damit ich das Paradies erfinden kann. Gleichzeitig muss ich auch zugeben, dass die Vorstellung eines Paradieses etwas Menschliches ist. Es ist paradox: Wir brauchen die Vorstellung, dass es ein Paradies gibt, und wissen zugleich, dass es nicht möglich ist, und behalten beide Vorstellungen im Kopf.

profil: Warum wünschen sich so viele Menschen, dass es wieder so wird, wie es einmal war? Roth: Weil sie nicht wissen, wie es wirklich war, oder weil sie es vergessen haben oder vergessen wollen. Sie verfälschen die Vergangenheit, bis diese ein vermeintliches Paradies ist. Es gibt also ein weiteres Paradoxon: Wir brauchen nicht nur eine Hoffnung für die Zukunft, sondern implantieren die erträumten schönen Zeiten sogar zurück in die Vergangenheit.

profil: Die Idylle der Rechten. Roth: Vor mehr als 20 Jahren erschien mein Buch der „Der See“. Darin kommt ein politischer „Hoffnungsmann“ vor. Dieser „Hoffnungsmann“ bringt es zustande, die Menschen mit einfachsten Lösungsvorschlägen zu betören und ihnen die Illusion zu geben, dass sich mit ihm auf einen Schlag alles ändert. Donald Trump funktioniert so, Strache und Hofer ebenso oder Viktor Orbán und die „Hoffnungsfrau“ Marine Le Pen. In meinem Roman sollte der „Hoffnungsmann“ von einem drogensüchtigen Medikamentenvertreter getötet werden, doch die Pistole hatte Ladehemmung. Der „Hoffnungsmann“ ist unsterblich. Es wird immer einen neuen „Hoffnungsmann“ geben. Selbst nach einem Hitler, einem Stalin oder einem Pol Pot hat sich daran nichts geändert.

profil: Weil der Mensch an sich böse ist? Roth: Der Mensch ist einerseits leichtgläubig, andererseits hasserfüllt. Dass die einen die Guten sind und die anderen die Schlechten, das gibt es nicht. Auch die Schlechten haben Gutes und die Guten Schlechtes. Ich glaube, jeder hat sehr viele falsche Menschenbilder über sich selbst und andere im Kopf.

Die Kinder der Konservativen wählen heute die konservative FPÖ.

profil: Sie haben sich früher mit den Bauern im Wirtshaus gestritten. Tun Sie das immer noch, und wenn ja: Was erfahren Sie dabei? Roth: Seit ich keinen Alkohol mehr trinke, ist es für mich etwas traurig im Wirtshaus. Aber Sie wollen wissen, warum so viele Menschen auf dem Land freiheitlich wählen. Ich glaube, es ist ein ideologisches Vakuum entstanden, weil vor allem die jüngeren Menschen nicht mehr so religiös sind wie ihre Vorfahren. Die Kinder der Konservativen wählen heute die konservative FPÖ. Der „Sozi“ war auf dem Land sowieso immer eine fragwürdige Person. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 1918 war in der Habsburger Monarchie 600 Jahre alles klar und festgefügt gewesen. Es herrschte eine Machtpyramide, die jedem seinen Platz zuwies. Der Glaube an die römisch-katholische Kirche hatte darin einen hohen, auch politischen Stellenwert. Diese Gesellschaftsordnung ist nur sehr langsam zerbröckelt, auch die politische Macht der Kirche hat bis zur Zeit des Nationalsozialismus fortgedauert. In den 1960er- und 1970er-Jahren gab es in der Gemeinde St. Ulrich bei Wahlen immer eine kommunistische Stimme. Die Leute haben sich natürlich gefragt, wer das war. Und sie hatten eine bestimmte Vermutung. Sobald der Verdächtige zur nächsten Wahl erschien, griff einer der Beisitzer beiläufig zu seinem Schmalzbrot, biss davon ab und überreichte ihm mit seinen Fettfingern den Stimmzettel und das Kuvert. Als man die Kuverts öffnete und auf dem betreffenden Stimmzettel die Fingerabdrücke fand, herrschte große Erleichterung. Der Mann war überführt.

profil: Was passierte dann? Roth: Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der Mann hat alles abgestritten, aber von da an gab es bei Wahlen nie wieder eine kommunistische Stimme.

profil: Was hält die Gesellschaft heute noch zusammen? Roth: Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, was die gesamte Menschheit zusammenhält – am ehesten der Pessimismus oder der Glaube, dass wir alle Opfer sind. Was Gemeinschaften aber zeitweise zusammenführt, sind Katastrophen. Wenn zum Beispiel ein Kernkraftwerk in Europa plötzlich massiv Radioaktivität ausstrahlte, wie es in Tschernobyl oder Fukushima der Fall war, würde das unser Leben verändern. Im schlimmsten Fall könnte es auch zu Flüchtlingsströmen von Europäern kommen.

Erst wenn der Verlust eintritt, die Katastrophe, versteht man, was man verloren hat.

profil: Der Mensch braucht die Katastrophe, um glücklich zu sein? Roth: Nicht um glücklich zu sein, sondern um zusammenzuhalten. Der Mensch hat nie begriffen, dass das Paradies schon das Allergewöhnlichste, das Selbstverständlichste ist: dass er zu essen und zu trinken hat, dass er sehen, hören und sprechen kann, dass seine geliebten Menschen leben. Erst wenn der Verlust eintritt, die Katastrophe, versteht man, was man verloren hat. Dann erinnert man sich an die Zeit, als alles noch selbstverständlich war.

profil: Sehen Sie eine neue nationalistische Ideologie im Entstehen? Roth: Die Generation, der ich angehöre, hat noch massenhaft Armut erlebt. Wir stehen vor der Ablöse. Die Heranwachsenden erfahren in der Schule nichts von Sozialgesetzen, die über ein Jahrhundert lang erkämpft wurden. Sie nehmen das, was ist, für selbstverständlich. Sie glauben an nationalistische Ideen und populistische Schlagwörter. Der Nationalismus ist jedoch keine Lösung. Er ist ein Gefühl, und wohin – um mit Josef Haslinger zu sprechen – eine „Politik der Gefühle“ führt, hat Österreich vor 75 Jahren erfahren.

profil: Ist die Landbevölkerung konservativer als die Städter? Roth: Ich hatte von meinem Schicksal her immer wieder mit dem Land zu tun. Schon als Kind ging ich mit meinem Vater hamstern. Und später waren wir im Sommer und an Wochenenden immer wieder auf dem Land. Dann kam ich als 34-Jähriger selbst hierher: in eine andere Welt. Wir, meine spätere Frau Senta und ich, lebten wie früher die Kleinhäusler. Finanziell hatte ich damals auch keine andere Chance. Ich wollte ja wirklich wissen, wie die Menschen auf dem Land leben. Ich habe erkannt, welche Pflichten sie erfüllen müssen, wie begabt viele sind, wie sie ihr Leben meistern. Und sie haben mir später auch geholfen – ich hatte ja nicht einmal ein Telefon. Kinder kamen gelaufen, wenn jemand für mich im Kaufhaus oder beim Wirten angerufen hat. Eines Tages hieß es, ich solle ins Kaufhaus hinaufkommen: „Der Bruno Kreisky will mit dir reden.“

profil: Hat jemals wieder ein Politiker mit Ihnen das Gespräch gesucht? Roth: Nein. Doch: der Franz Voves.

Gerhard Roth, Schriftsteller, 74 Jahre alt, lebt in Wien und in St. Martin im Sulmtal. Vor 40 Jahren zog er in die Südsteiermark, um ein Buch über das Leben auf dem Land zu schreiben. Zuvor hatte er sein Medizinstudium und seinen Beruf im Rechenzentrum Graz aufgegeben. 25 Jahre lebte er unter ärmlichen Bedingungen, ohne Fließwasser oder Telefon. Zunächst war Roth im Dorf ein Fremder, die Ansässigen reagierten misstrauisch. Langsam erkämpfte er sich eine Art Zugehörigkeit, indem er das Leben der Menschen teilte. Roth wanderte von Hügel zu Hügel, ging von Haus zu Haus, hörte den Geschichten der Bewohner zu und stellte sich ihrem Zorn in den Wirtshäusern der Gegend. Wenn er davon erzählt, hat man nicht den Eindruck, dass wir heute in einem gespaltenen Land leben, sondern dass es immer schon so war. Im Jahr 2016 wurde Roth der Große österreichische Staatspreis verliehen. Zu seinem Werk zählen die großen Romanzyklen „Archive des Schweigens“ und „Orkus“.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling