Cannes

Teufel, Tod und Tarantino: Cannes 2023, unmittelbar vor Festivalende

Letzter Panoramablick auf ein gefährdetes Medium, kurz vor der Verleihung der Palme in Gold: Die 76. Filmfestspiele in Cannes lieferten verstörende Meisterwerke, vertraute Maßarbeit und ästhetische Armutszeugnisse.

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Zu den ersten Takten des aus „Reservoir Dogs“ (1992) wohlbekannten Songs „Little Green Bag“, den die George Baker Selection 1969 veröffentlichte, stapfte der Mann aus Knoxville, Tennessee, gutgelaunt und zu tosendem Applaus herein. Am gestrigen Donnerstag, kurz nach 16 Uhr, am zehnten Tag der 76. Festivals in Cannes, enterte Quentin Jerome Tarantino, 60, die in den Keller des Marriott-Hotels gebaute Filmbühne des Théâtre Croisette, des Hauptspielorts der Cannes-Alternativprogramms Quinzaine des cinéastes. Tarantino war eingeladen, eine Masterclass zu geben; aber zunächst enthüllte er das Geheimnis, dass er einen seiner Lieblingsfilme mitgebracht hatte – eine verschrammte 35mm-Kopie von John Flynns brutalem Rachedrama „Rolling Thunder“ von 1977, das in deutscher Synchronfassung übrigens den exquisiten Titel „Der Mann mit der Strahlkralle“ trägt.   

„Lasst uns dieses Kino in ein Grindhouse verwandeln“, rief Tarantino der johlenden Menge zu, und tatsächlich erhitzte die (auf einem Originaldrehbuch des „Taxi Driver“-Autors Paul Schrader basierende) Vergeltungsodyssee zweier Vietnamveteranen das sonst nobler Cinephilenkost vorbehaltene Kino beträchtlich. Tarantino betonte im Gespräch danach seine Zuneigung zu Filmen wie diesem („Look, I like violent movies“), vor allem zu den Werken des aus seiner Sicht viel zu wenig anerkannten Brian De Palma, erklärte aber auch, dass er es hasse, Tiere im Kino sterben zu sehen – sogar Insekten wolle er nicht zerquetscht sehen („I’m not paying to see real death in movies“). Er sei jedoch grundsätzlich gegen jede Art des „sozialen Kompromisses“ im Kino, also auch gegen politische Korrektheit gleich welcher Couleur. Wer damit nicht umgehen könne: „Well, too fuckin’ bad!“

Das Mikrofon liege ihm gerade so gut in der Hand, lachte Tarantino am Ende noch, dass er versucht sei, bereits die schärfsten Dialoge aus seinem gerade entstehenden – dem Vernehmen nach als sein Abschiedswerk geplanten – neuen Film „The Movie Critic“ zu rezitieren. Aber nein, das mache er jetzt nicht – „ihr alle werdet euch noch gedulden müssen“.

Wer sich der bedeutendsten Kino-Leistungsschau dieses Planeten überantwortet, muss an Ambivalenzen und Widersprüchen einiges aushalten. Kunstvoll gedrechselte Arbeiten aus filmisch kaum erschlossenen Territorien und neue Qualitätsarbeiten renommierter Filmschaffender (wie Justine Triet, Catherine Breillat und Alice Rohrwacher) treffen da auf schamlos Merkantiles aus den rasenden Herzen der Filmindustrie: Das jüngste „Indiana Jones“-Epos, das bei den diesjährigen Filmfestspielen an der Croisette erst für Hysterie, dann für Achselzucken sorgte, ist da nur der offensichtlichste Programmpunkt. Aber in Cannes haben nicht nur Mutproben wie Jonathan Glazers überragende Holocaust-Vision „The Zone of Interest“ Konjunktur, sondern leider auch Filme, die ganz offensichtlich nur wegen ihres Staraufgebots eingeladen werden (wie der heillos überspannte Sean-Penn-Rettungsfahrer-Reißer „Black Flies“).

Dies liegt auch am Druck, den die Vollversammlung der globalen Filmbranche in Cannes ausübt: Rund 14.000 Menschen, so viele wie noch nie, tummelten sich heuer allein am traditionellen Marché du Film, und diesmal war auch die asiatische Filmbranche wieder dabei, erstmals seit 2019, der letzten Prä-Covid-Edition. Die Akkreditierten aus den Bereichen Journalismus und Fotografie sowie all die Filmteams sind da noch gar nicht mitgerechnet. Am Filmmarkt in Cannes, wo man billiges Softporno- und Serienkillerkino ebenso erwerben kann wie hochprofilierte Kunst, werden Werke und Projektideen gekauft und verkauft, optioniert und verhandelt. Eine neue Waffenruhe zwischen Arthouse-Kinobetrieb und Streaming-Diensten, die für die Krise des Kinos bislang wenig Verständnis zu haben schienen, wurde dabei vielfach deutlich: Es mag am Ende doch besser sein, bestimmten Filmen erst ein paar Monate exklusiven Kinoeinsatz zu gewähren, als alle Produkte stets möglichst schnell online zu stellen.

Schätzungen zufolge fielen heuer an die 40.000 Filmprofessionelle in die südfranzösische Kleinstadt ein. Und alles war wieder wie vor der Pandemie: An der Croisette tobte allabendlich in jedem der noblen Strandlokale eine Party, vor den Eingängen Menschentrauben, die um Eintrittskarten feilschten.

Um Unterhaltung allein geht es in Cannes keineswegs. Entertainment ist in der Kunst keine Grundbedingung, nachhaltige Irritation kann produktiv sein, zur Reflexion über Filmform und Weltbilder herausfordern: Der türkische Kino-Auteur Nuri Bilge Ceylon etwa zerrte mit seiner mehr als dreistündigen Erzählung eines selbstgerechten Dorflehrers, gegen den an seiner Schule ermittelt wird, weil er sich einem Mädchen zu liebevoll genähert habe, an den Nerven. Die winterliche Charakterstudie „About Dry Grasses“ ist mit langen Dialogen ausgestattet, in denen die Dinge in Schwebe gehalten werden; Ceylan verweigert Urteile, überlässt die finale Interpretation vieldeutiger Ereignisse und Charaktere dem Publikum. Ambivalenz in Formvollendung.

Der Amerikaner Todd Haynes, der in seinen Filmen gern etablierte Genres experimentell untergräbt, führt in seinem klug konstruierten jüngsten Melodram ebenfalls auf glattes Eis: In „May December“ konfrontiert er eine sozial geächtete Frau (Julianne Moore), die einst, als Mittdreißigerin, ein Verhältnis mit einem 13-Jährigen einging, mit der recherchierenden Schauspielerin (Natalie Portman), die sie in einer TV-Kitschproduktion verkörpern soll. Die übersteigerte Ambition der in das Leben ihres Vorbildes eindringenden Künstlerin trifft da auf die ungewissen Positionen einer zunehmend enervierten Verfemten. Haynes kostet die Mysterien und psychologischen Leerstellen seiner Versuchsanordnung aus und beleuchtet nebenbei die Schattenzonen seines Metiers: „May December“ ist alles andere als ein Liebesbrief an die Disziplin des Filmschauspiels.

Zu den wesentlichen Aufgaben eines Festivals wie Cannes gehört es, seiner Europa-Zentriertheit entgegenzuwirken und das Filmschaffen chronisch vernachlässigter Gebiete zu erkunden. Das afrikanische Kino liegt da, schon der französischen Kolonialgeschichte wegen, als Untersuchungsgegenstand nahe: Die Tunesierin Kaouther Ben Hania etwa hat mit „Four Daughters“ einen hybriden Film, eine dokumentarische Arbeit mit fiktionalen und inszenierten Elementen vorgelegt, um das reale Drama einer Mutter zu erzählen, die nicht verhindern konnte, dass sich zwei ihrer Töchter radikalisierten und sich dem „Islamischen Staat“ anschlossen. In Spielszenen, unter Einbindung dreier Darstellerinnen, bearbeitet die Regisseurin das Familientrauma, das stark emotionalisiert, nur formal etwas zu hochpoliert geraten ist. Die junge französisch-senegalesische Filmemacherin Ramata-Toulaye Sy legte das einzige Debüt im Wettbewerbsprogramm vor: Ihr Beziehungsdrama „Banel & Adama“, gedreht in einem Dorf im Norden Senegals, benützt die Tugenden der westafrikanischen Filmgeschichte für ein bildstarkes, in aller Klarheit formuliertes Trauerspiel um blockierte Liebe, Macht und Wahnsinn, Die wohl absonderlichste, stilistisch verblüffendste Komödie des Festivals steuerte, wie berichtet, die Österreicherin Jessica Hausner bei: Ihre Essstörungs-Farce „Club Zero“ erzählt anhand der Story einer Lehrerin, die ihre Klasse durch Nahrungsverzicht zum antisozialen Widerstand aufruft, derart stilisiert von Machtmissbrauch und Manipulation, dass die internationale Filmkritik in Cannes fast geschlossen das Handtuch warf.

Gut, dass man zwei weitere Spitzenfunktionäre der verqueren Komödie im Wettbewerbsprogramm aufzubieten hatte: Der Finne Aki Kaurismäki, 66, belustigte erst mit seinen Clownerien am roten Teppich vor dem Kinopalais (er tänzelte viel zu nah an den Objektiven der Fotoapparate, schulterte die Kamera eines TV-Mitarbeiters und verschanzte sich anschließend hinter dem überfordert wirkenden Festivalchef Thierry Frémaux), dann erfreute er mit dem pointiert geschriebenen Film „Fallen Leaves“, einem weiteren seiner staubtrockenen proletarischen Dramen, die Herzen seiner cinephilen Anhängerschaft.

Und der Texaner Wes Anderson, 54, hebelte gegen Ende des Festivals das Publikum mit einem seiner irrwitzigen, fast schon zu dicht gewobenen Filmgebilde aus: Andersons „Asteroid City“ ist ein liebevolles Plädoyer für das amerikanische Theater der 1950er-Jahre, aber auch akribisch konstruierte Wüstenburleske, die erfinderische Retro-Fantasie eines verloren gegangenen Amerikas. Die gegen Ende des Festivals bereits sinnlich geschwächte Zuschauerschaft in Cannes konnte damit, wie es schien, wenig anfangen. Die immense Kunstfertigkeit eines großen US-Stilisten ging hier ins Leere. Es tut ihr keinen Abbruch.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.