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Übergriffe im Tennistraining: Leonardo Van Dijl über sein Drama „Julie bleibt still“

Missbrauch im Sport: Der belgische Film „Julie bleibt still“ verhandelt auf unüblich reduzierte Weise akute Sozial- und Moralfragen. Ein Gespräch mit dem jungen Regisseur und Autor Leonardo Van Dijl.

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Kann ein schweigendes Mädchen, das keine Taten setzt, sondern in sich gekehrt, unschlüssig bleibt, einen Spielfilm tragen? Für Spannung sorgen? Der belgische Regisseur und Autor Leonardo Van Dijl, 34, führt vor, wie das geht. Sein Debüt, „Julie bleibt still“, handelt von einer hochbegabten Tennis-Nachwuchsspielerin, die auf den Suizid einer Kollegin und die Suspendierung ihres Trainers mit Beklemmung und Stillschweigen reagiert. Was hat der Mann sich zuschulden kommen lassen? Wer weiß darüber Bescheid? Der Film zeigt, wie das alarmierte Umfeld des Mädchens Druck auf eine potenziell Betroffene auszuüben beginnt, aber auch, welch einschneidende Wirkungen die Stille einer Zeugin haben kann.

Dem filmischen Ultra-Realismus der Regisseurinnen Laura Wandel ("Un monde / Playground") und Fien Troch ("Holly") ist Van Dijl nahe, sein Erzählstil erscheint jedoch noch ein Stück entrückter, zärtlicher zu sein. Zoom-Call nach Brüssel: Leonardo Van Dijl erklärt, dass er diese Geschichte „wie eine griechische Tragödie erzählen wollte – zeitlos und genau, dabei Fragen und Antworten finden, die mir beim Schreiben gar nicht bewusst waren.“ Julie sei seine Antigone.

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Das Thema Sport und Missbrauch fesselt Van Dijl seit gut zehn Jahren. Über seinen Kurzfilm „Umpire“ (2015), der eine ganz ähnliche Story behandelt, will er aber nicht reden. Nur so viel: „Vor zehn Jahren gab es #MeToo noch nicht. Erst als die Bewegung 2017 auftauchte, begann sich ein Bewusstsein auszubreiten.“ Sein Film sollte jedoch kein „Hashtag-Movie“ werden. Denn irgendwann sei #MeToo auch inflationär geworden, habe seine eigentliche Bedeutung verloren. „Ich wollte eher darüber sprechen, wie wir junge Athletinnen schützen können. Wie können wir als Gemeinschaft für Räume sorgen, in denen nicht die gesamte Verantwortung den Betroffenen  zugeschoben wird? Sie sollen uns alarmieren, als wäre das ihre Aufgabe.“ Seinen Film verstehe er somit eher als #Safeguarding-, nicht als #MeToo-Movie: als ein Drama möglicher Schutzmaßnahmen.

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Denn: „Das Schweigen ist ein sehr menschlicher Zustand“, sagt Van Dijl. „Wir alle sind irgendwann mit Dingen konfrontiert, über die wir kaum reden können. Aus Scham, Unwissen oder Angst. Sprechen oder nicht sprechen: Das ist die Grundfrage, das Dilemma dieses Films. Was immer Julie tut, es könnte sie zerstören. Sie denkt also nach, sehr lange. Insofern geht es um Julies Emanzipation ebenso wie um die Leute um sie herum, die erst lernen müssen, auf Julies Schweigen zu hören.“

Auch Van Dijls Kurzfilme „Get Ripped“ (2014) und „Stephanie“ (2020) spielten in der Sportwelt, drehten sich um manipulative Trainer. „Ich betrachte Sport als eine Art Religion: Tagtäglich stundenlang zu trainieren, das ist wie unentwegtes Beten. Mir gibt das Thema die Gelegenheit, Rituale, Choreografien aufzuzeichnen. Und Sport ist eben auch kommunal, Teil des Alltagslebens.“

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In einem ruhigen, fast erschreckend neutralen Stil ist „Julie bleibt still“ gehalten, sehr nuanciert. Die Disziplin und der Rückzug der von der Film-Amateurin Tessa Van den Broeck (nur als Tennisspielerin ist sie ein Profi) bewundernswert gespielten Heldin haben etwas zutiefst Deprimierendes. Es ist auch eine Geistergeschichte, wie von einem Fluch wird Julie von ihrem Trainer verfolgt. Van Dijls Kino ist eines der Implikationen, nicht der Erklärungen. „Am Ende wollte ich den Film so gestalten, als gehörte er Julie, als würde sie ihn selbst inszenieren. Es ging nur um ihre Perspektive. Ich wollte mein Regie-Ego, in gewisser Weise sogar das Kino selbst unsichtbar machen.“ Dieser letzte Wunsch ist glücklicherweise nicht in Erfüllung gegangen.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.