Burda hat zu einem kleinen Galadinner geladen, in dessen Verlauf er dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek das Manuskript von „Die Ballade des letzten Gastes“ schenken möchte. Der Roman ist vor zwei Jahren erschienen. „Die Ballade des letzten Gastes“ erzählt von einem Gregor, der sich auf eine „Ein-Mann-Expedition“ begibt. Seit Handkes Debüt „Die Hornissen“ vor knapp 60 Jahren ist Gregor im Werk des Autors kein Unbekannter.
Burda ist 85. Er wirkt im Salon seiner Villa, die so aussieht, als wäre seit langer Zeit kein Möbelstück mehr verrückt worden, als könnten draußen tatsächlich noch Kutschen fahren, wie ein vergnügter Buddha, der nicht mehr so gut auf den Beinen ist. Er nimmt die Dinge mit Gelassenheit. Der stundenlange Verzug wegen des Rössels? Burda trällert zur Begrüßung mit fester Stimme ein Lied auf eine Art Wienerisch, in dem es um einen alten Fiaker und seine Rösser in Wien-Wieden geht.
„Machen wir die Übergabe jetzt oder nach der Vorspeise?“, fragt Burda in den Raum. „Peter!“, ruft er nach hinten. „Peter!“ Kein Peter. „Nie folgt er“, so Burda. Dann kommt Peter. „Ich hab ja nichts zu machen“, sagt Peter Handke. „Komm mit mir!“, antwortet Burda.
Spargelsalat mit gebeiztem Saibling
Gemeinsam geht es in den Speisesalon zur Vorspeise. Viele helfende Hände. Holzdielenknarren. Vogelgezwitscher aus dem Garten. Der Koch aus Paris. Die Messer und Gabeln aus schwerem Edelstahl. Es gibt lauwarmen Spargelsalat mit gebeiztem Saibling, Kräutervinaigrette und warme Brioche.
„Uns führt heute ein besonderer Anlass zusammen“, sagt Burda, am Ende der Tafel thronend, umgeben von wertvollen Gemälden und vom Hausherrn Selbstgemaltem. „Das Manuskript, das ich über ein Jahr in einem Safe aufbewahrt habe, eine Kostbarkeit, die mir große Freude bereitet hat, wird heute an das Heimatland Peter Handkes, an Österreich, an dessen Nationalbibliothek in Wien weitergegeben und wird damit Teil des literarischen Erbes der Republik.“
Links von Burda sitzt Handke, rechts vom Verleger Bernhard Fetz, der Direktor des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB), der die mehr als 80 mit Bleistift geschriebenen Manuskriptseiten von München nach Wien mitnehmen wird.
Seit 1990 schreibt Handke seine Bücher mit Bleistift, in klarer, kleiner Schrift, buchstäblich handverlesene Poesie-Partituren im Tastaturzeitalter. Die ÖNB hat bereits viele Manuskripte Handkes im Speicher gelagert, die großen Romane ebenso wie etliche Nebenwerke, viele Laufmeter Archivschachteln, dazu Briefe, Fotos, Schreibmaschinen, Brillen, den Salzburger Schreibtisch. Man sieht es Fetz an, dass er in Zeiten magerer Budgets die „Ballade“-Handschrift von Burda freudig entgegennimmt.
Rinderfilet mit Portweinjus
„Bringen wir es hinter uns“, sagt Handke, 82, zu Burda. „Du sollst nicht immer so ungeduldig sein“, tadelt der. „Das ist wahr“, antwortet Handke. Der Verleger als Freund und Förderer der Poesie, als Philosoph und Praktiker. Der Dichter als Hausgefährte. Man kennt und schätzt einander seit Jahrzehnten. Neckereien und angeraute Zärtlichkeiten zwischen alt gewordenen Buben. Ein unbeschwerter Münchner Nachmittag mit vorzüglichem Weißwein. „Peter, du bist der Mittelpunkt unserer Matinee“, sagt Burda. „Endlich was Neues“, murmelt Handke. Burda: „Ich freue mich seit 14 Tagen auf diesen Tag. Und vor allem auf deine Abreise.“
Neben Fetz sitzt Handkes Ehefrau Sophie Semin. Die Schauspielerin hat in Paris die erste deutsch-französische Buchhandlung eröffnet. Für Donnerstag ist dort eine Veranstaltung geplant, deshalb müssen die Handkes bald aufbrechen. Ob Peter, sagt Semin, auch kommen werde, sei offen. Er folgt ja nicht.
Katharina Pektor ist ebenfalls nach München gekommen. Es gibt niemanden, der Handkes Werk so gut kennt wie die Wiener Literaturwissenschafterin. Seit 20 Jahren archiviert, publiziert und vermittelt sie Handkes Texte, analog in Büchern und digital auf „Handkeonline“ und einem Portal mit Handkes Notizbüchern, Tausende Seiten von Alltags- und Lebensmitschriften, eine Literaturquelle.
Am Tisch sitzt zudem Stephan Sattler, einst Kulturchef des Wochenmagazins „Focus“ und seit 15 Jahren ruhige Kraft im Burda-Büro.
Lena Furtwängler, die neben Sattler Platz genommen hat, ist eine gute Freundin Burdas und eine Verwandte der Schauspielerin Maria Furtwängler; 2022 gaben Maria Furtwängler und Hubert Burda nach über 30 Jahren Ehe ihre Trennung bekannt.
Die Runde komplettiert ein Journalistenkollege vom „Focus“, der von seiner Tochter und deren Missgeschick mit dem Gatter einer Pferdekoppel erzählt, wie 20 Pferde unversehens auf offener Weide herumjagten. Schon wieder all die schönen Pferde.
Zum Hauptgang gibt es Tranchen vom Rinderfilet mit Portweinjus und frische Spitzmorcheln. Handke, der selbst ernannte Pilznarr, bekommt eigens einen imposanten Steinpilz auf den Teller. „Wir ändern das Programm. Durch die Pferde sind wir in Verzug geraten“, sagt Burda. Das Manuskript von „Die Ballade des letzten Gastes“ wird überreicht. Applaus. Und eine Erinnerung Burdas: „Österreich, vor langer Zeit. Da sagten die Leut: ,Ja, gibt’s den Handke denn noch immer? Der ist der Ärgste.‘“ Handke: „Manchmal ist das ein Lob.“ Burda weiter: „Inzwischen könnten wir einen Empfang machen, Bundespräsident und Bundeskanzler würden erscheinen, und beide würden behaupten, seit ewigen Zeiten Handke zu lesen.“
Topfenknödel mit Marillenröster
Topfenknödel mit Marillenröster und Butterbröseln zum Dessert. Dazu Kirschen auf Eiswürfeln. Handke reicht den Teller seiner Frau Sophie. Lieber noch ein Glas Wein.
Handke-Texte lagern nicht nur in Burdas Tresor, er hat einen Brief des Schriftstellers auch im Speisezimmer ausgestellt. Handke tut an diesem Nachmittag etwas, was er selten macht: Handke liest Handke.
Es geht in dem Brief um ein Buch eines Autors namens Hubert Burda. „H. B. war ein Epos, so neu und unerhört, wie noch keines je in die Weltöffentlichkeit gelangt war, neuartiger und unerhörter als gleich welche Novelle“, liest Handke. „Freund Hubert, als epochemachender Epiker, dank dieses Erstlingswerks des Achtzigjährigen, das ist er, das durfte nicht wahr sein, die ganze Nacht fast den schweren Band geöffnet, an den immer gleichen Seiten in den Händen, suchte ich zwischen den Zeilen meinen Namen. Nichts da. Nicht ich, nicht einmal eine Fußnote von mir. Blind vor Wut konnte ich aber auch kein einziges Wort in dem dabei doch garantiert weltbewegenden Hubert-Burda-Epos entziffern. Zu guter Letzt freilich, urplötzlich, wie man sagt, ich Träumender aus dem Spiel, als eine Art Erlösung.“ Eine Freundschaftserklärung, auf Traumumwegen überreicht.
Er müsse dies, sagt Handke in fröhlicher Runde, tatsächlich geträumt haben. „Ist alles gelogen, macht aber nichts. Dieses Arschloch ist ein berühmter Epiker geworden, und ich komme überhaupt nicht vor in dem Text.“ Burda neben Handke, jovialer Ton: „Ach Peter, was wäre ich ohne dich. Ein ,Bunte‘-Macher oder Ähnliches.“
Vor einem Jahr, erinnert sich wiederum Handke, als er im Krankenhaus lag, Herzprobleme, habe er versucht, „Anna Karenina“ zu lesen. „Dem war nicht beizukommen, dieses Gesellschaftsgeschwätz. In der Klinik las ich die ,Bunte‘. Kleine Geschichten. Wer mit wem gerade zugange ist, wer wen verlassen hat.“
Das letzte Wort hat die Deutsche Bahn. Am Münchner Ostbahnhof, beim Warten auf den Zug nach Wien, die Lautsprecherdurchsage, wonach sich der Zug wegen eingeschränkter Verfügbarkeit der Gleise verspäte.