Neue Serie

Piraten-Epos mit Gummi-Faust

Keine Comic-Reihe ist erfolgreicher, kaum eine TV-Serie hat derart viele Folgen und nur die „Harry Potter“-Bände wurden öfter verkauft: Dennoch ist das japanische Piraten-Manga „One Piece“ hierzulande so gut wie unbekannt. Eine neue Netflix-Saga könnte das ändern.

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Wer nie um ein gezeichnetes Schiff geweint hat, kennt „One Piece“ nicht. Seit einem Vierteljahrhundert schreibt und zeichnet der japanische Manga-Autor Eiichiro Oda, Jahrgang 1975, die Geschichte von Monkey D. Ruffy, jenem Jungen mit dem Strohhut, der König der Piraten werden will. Odas Output ist so gewaltig wie detailverliebt. Mit über 1000 Kapiteln und mehr als 100 bislang publizierten Sammelbänden avancierte „One Piece“, Ruffys wild-abenteuerliche Geschichte, zu einem singulären Epos, das jede Woche weiter wächst.

Seit 2015 hält „One Piece“ den Weltrekord als meisterverkaufte Comicserie eines Einzelautors. Mit mehr als 500 Millionen verkaufter Publikationen hat Odas Manga auch jene Marke geknackt, die sonst nur mehr die „Harry Potter“-Reihe erreicht hat – dabei wird „One Piece“ außerhalb Japans vorwiegend online gelesen und als Anime, als animierte Zeichentrickserie, konsumiert. Es scheint also nur logisch, dass der US-Streamingdienst Netflix am Manga-Megaerfolg entsprechend partizipieren will (siehe unten). 

Ob das allerdings gelingen wird, ist fraglich. Die vollends überzeichneten Fantasiewelten und hypermagische Fertigkeiten des „One Piece“-Personals lassen sich wohl nur schwer auf Sets, Schauspielerinnen und Schauspieler übertragen; das Netflix-Vorhaben erhielt daher pro Folge mehr Budget als „Game of Thrones“. Kommenden Donnerstag wagt der Streamingdienst dennoch den teuren Anlauf: Ruffys Strohhut-Bande setzt erstmals in Realverfilmung Segel. Die Suche nach dem größten Schatz der Welt, dem „One Piece“, birgt immense Risiken – auch für das US-Studio.

Mega-Manga-Erfolg

In Japan ist der Junge mit dem Strohhut Kult. In Odas Heimatort Kumamoto stehen bronzene Statuen der Strohhutbande, Nachbildungen ihrer Schiffe segelten durch Tokios Hafen und im Tokyo Tower, dem Wahrzeichen der japanischen Hauptstadt, war bis Corona ein „One Piece“-Erlebnispark zu besichtigen. Kein Wunder, handelt es sich bei „One Piece“ doch um eine veritable Gelddruckmaschine: Bereits 2004 spielte die Marke mehr als eine Milliarde US-Dollar ein. Mittlerweile wurde jeder der über 100 Sammelbände über eine Million Mal verkauft; mehrere Anime-Filme belegten erste Plätze in den japanischen Kino-Charts. 

Der wirtschaftliche Erfolg von „One Piece“ hinterlässt seine Spuren: Der Schiffarzt der Strohhutbande, der eher einem niedlichen Flauschball denn jenem Rentier gleicht, das er im Grunde darstellen sollte, ist Resultat reiner Marketing-Entscheidungen: Kein „One Piece“-Charakter wird häufiger in Plüschtier-Form verkauft. Die Dekolletés der weiblichen Figuren sind permanenten Belastungsproben ausgesetzt. Der dreiste Fokus, den das Anime auf spärlich bedeckte Frauenkörper legt, ist zielgerichteter Service für männliche Konsumenten: Die Beine der weiblichen Crew-Mitglieder Nami und Robin werden mit Fortdauer länger, die Brüste größer, die Outfits knapper. Verschwitzte Herrenwitze als erfolgreiches Verkaufsrezept.

Rekordhalter

Mit weltweit mehr als 500 Millionen veräußerten Exemplaren  ist „One Piece“ die meistverkaufte Mangaserie  und das erfolgreichste Comic eines einzelnen Autors. Nur von „Superman“ verkauften sich mehr Comic-Hefte (600 Millionen seit 1938). Die über 1000 Folgen der Anime-TV–Serie haben eine Laufzeit von  mehr als zwei Wochen, die 104 deutschen Manga-Bände nehmen im Bücherregal 1,70 Meter ein.

International ist die Strohhut-Bande indes deutlich weniger bekannt. Ein Fünftel der über 500 Millionen „One Piece“-Bände wurde außerhalb Japans verkauft. In Deutschland waren es bis Ende 2022 rund 6,7 Millionen Ausgaben. „Dragonball“, die Manga-Serie des japanischen Zeichners Akira Toriyama, ist im deutschsprachigen Raum bis dato Marktführer. Für Österreich wollte der deutsche Carlsen-Verlag auf Anfrage keine aktuellen Verkaufszahlen kommunizieren. Die 15 animierten „One Piece“-Filme wurden hierzulande nicht zum Verkaufsschlager. 
Das mag zum Teil am Angebot liegen, denn die wenigen Vorführungen von „One Piece Film: Red“, dem animierten Stück von 2022, füllten vergangenen Herbst Wiens Kinosäle. Es gibt neue Sammelkarten- und Videospiele, auf Comic-Messen sind Ruffy und Co. allgegenwärtig – sei es als Sammelfiguren, Plüschtiere oder als verkleidete Besucherinnen oder Besucher. Wer sich für Mangas und Animes begeistert, kennt „One Piece“.

Held aus Gummi

Dabei ist das Manga „One Piece“ auf den ersten Blick nichts Besonderes. Um Piratenkönig zu werden, muss Ruffy eine treue Crew um sich sammeln, die mit ihm gemeinsam durch Welt- und Wolkenmeere segelt – und auf diese Weise stark genug zu werden, um noch die gefährlichsten Widersacher aus dem Weg zu räumen. Eine „Teufelsfrucht“ macht es möglich, dass Ruffys Körper aus Gummi ist: Pistolenkugeln prallen ab, mit seinen dehnbaren Gliedmaßen kann er Gegenspieler aus der Ferne verprügeln. 

Halbgare Witze und aufreibende Kämpfe begleiten die Crew in „One Piece“ von Insel zu Insel. Dazwischen geht es um Freundschaft, Freiheit, die Erfüllung von Träumen. Typisch für Mangas, wird auch „One Piece“ von rechts nach links gelesen – und ist ohne Farben gezeichnet: Tusche und Schattierungsfolie waren und sind auf den bisher mehr als 20.000 publizierten Manga-Seiten die Hauptwerkzeuge von Illustrator Oda. 

Erst das Anime verlieh „One Piece“ jenen knallbunten Anstrich, der zum Cast der Serie passt und die neun Mitglieder der Strohhut-Bande in aller Skurrilität ausschildert. War Ruffys erster Gefährte ein stoischer Samurai, begleiten ihn später ein sprechendes Rentier, ein Cyborg in Badehose sowie ein musikalisches Skelett. In der Welt von „One Piece“ fühlt sich dies keineswegs fremd an. Alles scheint hier möglich – vom tanzenden Stofftier-Zombies über zeitreisende Samurai bis hin zu geklonten Drachen.

Blut und Tränen

Der kindergerechte Auftritt hat einen guten Grund: „One Piece“ erscheint – wie viele andere Mangas auch – in wöchentlicher Folge im Magazin „Shounen Jump“, dessen primäres Zielpublikum junge Burschen sind. „Shounen“ ließe sich mit „Junge“ übersetzen. 

Wer die Endlossage seit ihrem Erscheinen vor 26 Jahren jedoch treu begleitet hat, ist heute längst kein Kind mehr. In Deutschland flimmerte das Anime bereits vor zwei Jahrzehnten über die Fernsehbildschirme. Oda hat ebenfalls an Jahren zugelegt. Wie sehr er sich dabei künstlerisch entwickelt hat, ist auf vielen seiner jüngsten Zeichnungen auf den ersten Blick zu erkennen. Dazu entfaltete er ein kaum mehr für möglich gehaltenes Erzähltalent. 

Zeitsprung

Nach fast 600 Kapiteln, die er in Wochenproduktion verfasst hatte, gönnte sich Manga-Autor Eiichiro Oda 2010 zwei Monate Auszeit. Bei seiner Rückkehr hatte sich auch die "Strohhut"-Bande für immer verändert: Die Geschichte von "One Piece" sprang zwei Jahre in die Zukunft, Ruffy und Co. wurden etwas älter, weiser und stärker, im Grunde aber dieselbe liebenswerte Piraten-Crew.

Hinter farbenfrohen Inselbewohnern, naivem Zeichenstil und fliegenden Fäusten verstecken sich durchwachsene Themen: Rassismus, Sklaverei, Genozid und deren traumatische Folgen ziehen sich wie blutrote Fäden durch die Erzählung. Die Weltregierung in „One Piece“ samt Seeflotte nimmt den Tod tausender Zivilisten billigend in Kauf, um die eigene dunkle Vergangenheit zu verschleiern. Machtgierige Piraten experimentieren an Kindern, hungern Inseln aus. Oda schafft es immer wieder, die Tragödien ganzer Völker spezifisch greifbar zu machen – und parallel eine im Kern locker-lustige Geschichte zu erzählen: Zehnjährige lesen „One Piece“, Erwachsene lieben die Serie.

Ruffy handelt, bevor er denkt.

Eiichiro Oda

der Autor über seinen Protagonisten

Ruffy symbolisiert unbeschwertes Glück und Freiheit – und wird gerade deshalb mit dem Leid unterdrückter Menschen und Gesellschaften (Fischmenschen, Meerjungfrauen, Zwerge) konfrontiert. Der Lösungsansatz des Simpels mit dem Strohhut? Die Verantwortlichen vermöbeln, dem Volk die Freiheit schenken. Um die Schlichtheit seines Protagonisten zusätzlich zu betonen, verzichtet Eiichiro Oda bewusst auf comictypische Sprech- und Gedankenblasen: „Ruffy handelt, bevor er denkt“, so Oda. 

Bunter Cast

Für emotionalen Tiefgang sind andere Figuren verantwortlich. Im vergangenen Vierteljahrhundert hat der Japaner eine springlebendige Welt erschaffen, die von mehr als 1000 Charakteren bevölkert ist. Ruffys Vater plant etwa die gewaltsame Revolution gegen den durch Inzucht entstandenen Adel, der über die „One Piece“-Welt herrscht. Wie so vieles in der Reihe, bleiben seine konkreten Pläne und Beweggründe ein Rätsel. Kleine und große Mysterien halten die Leserschaft bei Stange und sorgen dafür, dass sich selbst die Enthüllungen von Namen lange bekannter, schwer greifbarer Figuren zu narrativen Höhepunkten aufschwingen.

Dies funktioniert allein deshalb, weil sich hier selbst unscheinbare Nebencharaktere buchstäblich im Hintergrund weiterentwickeln: Klitzekleine Fotos in den Zeitungen der „One Piece“-Welt geben Hinweise auf das Schicksal früherer Feinde. Wegweisendere Ereignisse werden als singuläre Impressionen auf den Titelseiten der Manga-Kapitel erzählt und mit vermeintlich Trivialem aus dem Leben der Randfiguren gemischt. Wie Postkarten aus der Welt von „One Piece“ begrüßen diese Cover-Stories die Leserinnen und Leser, bevor die eigentliche Geschichte loslegt.

Ohne diese Art der Erinnerungen würden viele Figuren in Vergessenheit geraten – oder im Meer der schieren Menge an Charakteren untergehen. Beim sogenannten, global ausgereichten „Popularitätswettbewerb“ 2021 konnten sich die Fans zwischen 1174 „One Piece“-Charakteren entscheiden. Sieger wurde, wenig überraschend: Ruffy. 

Wer die Geschichte noch nicht kennt, kann sie nun zum ersten Mal erleben.

Iñaki Godoy

schlüpft für Netflix in Ruffys Sandalen

Ein Jahr lang vor dem Bildschirm

Die komplette Serie lesen? Schreckt viele ab. Anders als bei amerikanischen Comic-Superhelden kommt es nie zum „Reboot“, bei dem die Geschichte neu und anders aufgerollt wird. „One Piece“ ist keine Sammlung einzelner, lose zusammenhängender Episoden – siehe „Asterix und Obelix“ –, sondern eine durchgehende Erzählung. Wer den jüngsten Band aufschlägt, muss inhaltliche Lücken füllen – beziehungsweise die 1090 Kapitel, bei der die Serie derzeit hält, von Beginn nachlesen.

„Wer die Geschichte noch nicht kennt, kann sie nun zum ersten Mal erleben“, freut sich Iñaki Godoy, der für Netflix den Ruffy darstellen wird. Die Netflix-Serie lädt zum Neueinstieg ein – und lockt treue Fans immerhin mit purer Nostalgie: Gigantische Schiffe wurden auf Sets eigens nachgebaut statt als computergenierte Hintergründe zu dienen. Die meisten Charaktere sehen mindestens so auffällig aus wie im Comic. Insofern erspart einem Netflix einiges an Lebenszeit: Überspringt man Intro und Abspann, dauert jede Folge der seit Jahren laufenden „One Piece“-Anime-Serie rund 22 Minuten. 1073 Episoden zählt das Anime bis dato in Japan, auf Deutsch synchronisiert sind derzeit 1000 Folgen. Wer auf den aktuellen Stand kommen will, muss 400 Stunden vor Bildschirmen sitzen, mindestens ein Jahresprojekt. Nur zum Vergleich: „Die Simpsons“ halten aktuell bei 750 Episoden. Netflix beginnt seine „One Piece“-Serie erst einmal mit acht Folgen.

Realfilmserie mit Ruffy

Am 31. August startet die erste „One Piece“-Realfilmserie auf Netflix. Die acht Folgen entsprechen grob gerechnet den ersten 100 Kapiteln des Mangas beziehungsweise den ersten 50 Episoden des Animes: Monkey D. Ruffy (Iñaki Godoy) bricht auf, um König der Piraten zu werden. Auf den Weiten des Meeres trifft er auf Hunger, Orientierungslosigkeit und erste Widersacher, aber auch künftige Crewmitglieder wie den Piratenjäger Zorro (Mackenyu Maeda) und die Diebin Nami (Emily Rudd).

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Hat ein Faible für visuelle Kommunikation, schaut aufs große Ganze und kritzelt gerne. Zuvor war er bei der "Kleinen Zeitung".