Secret Agent

Zerstreute Welt: Kristen Stewart und Wes Anderson bei den Filmfestspielen in Cannes

Beim laufenden Filmfest an der Croisette wird die Gegenwart seziert: Es gab neue Schocker von Ari Aster und Kristen Stewart zu sehen – und zwei differenzierte Meisterstücke von Wes Anderson und Kleber Mendonça Filho.

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Die Gegenwart ist teilbar. Sie liegt zerstreut, zerschlagen vor uns, dient sich als Splitterwerk zum schnellen Verbrauch an. So entzieht sich das größere Ganze dessen, was wir ein bisschen hilflos Welt und Leben nennen, unserem Zugriff, dessen Einzelteile keine Summen mehr ergeben, nur von der existenziellen Ratlosigkeit ablenken wollen. Eine Kunst, die über das Jetzt nachdenkt, ist somit nicht mehr in der Lage, falsche Kontinuitäten zu behaupten; in einer Welt, die sich kaum noch „real“ wahrnehmen lässt, weil uns in ihr so gut wie alle Nachrichten und Ereignisse als endloser Strom vorgefilterter Sekundenbotschaften zum Wischen, Reposten und Scrollen, als Stichflammen der Erkenntnis, als beliebig bearbeitbare Sinnesreize erreichen, gehört die Konfusion zu den Grundbedingungen unsres Daseins.

Water

Im Begriff der „Zerstreuung“ der Bilder, Bedeutungen und Töne liegt die Unterhaltung ebenso wie die daraus verlässlich sich ergebende Kopf- und Gedankenlosigkeit. Beim Filmfestival in Cannes wird strategisch beides hervorgerufen: das Unterhaltungsbedürfnis und seine Analyse, der zerstreute Blick auf die Welt und die Kritik daran. Einer kaleidoskopischen, radikal fragmentierten Ästhetik bedient sich nicht nur Deutschlands Wettbewerbsteilnehmerin Mascha Schilinski mit ihrer experimentellen Vier-Generationen-Familienchronik „Sound of Falling“, sondern etwa auch das Regiedebüt der US-Schauspielerin Kristen Stewart: „The Chronology of Water“ zerlegt die Welt poetisch, schraubt Geräusche, Sprachfetzen und Bildassoziationen in scharfkantiger Montage ineinander. Der Film basiert auf den gleichnamigen Missbrauchs-Memoiren der Schriftstellerin Lidia Yuknavitch, die hier von der Britin Imogen Poots ohne Rücksicht auf Verluste porträtiert wird.

Phoenix

Von den sich gefährlich vertiefenden Gräben einer in Social-Media-Sucht und Pandemiepanik sich verheddernden Gesellschaft berichtet der amerikanische Horrorspezialist Ari Aster in „Eddington“. Als Sheriff einer Kleinstadt in New México taucht Joaquin Phoenix erneut in eine seiner typisch abgründigen Charakterstudien ab, was eine gute Stunde lang gelingt, im allzu lustvoll blutigen zweiten Teil aber ausdünnt. 
Insofern lässt das diesjährige Wettbewerbsprogramm, angesichts von höchst ambitionierten, aber nur zum Teil befriedigenden Projekten wie „Eddington“ und „Sound of Falling", noch zu wünschen übrig. Deutliche Favoriten im Kampf um die am kommenden Samstagabend zu verleihende Goldene Palme haben sich, wenn man die Schnellwertungen der internationalen Filmkritik in den Branchenzeitungen als Gradmesser nehmen mag, bislang nicht herauskristallisiert. Die Festivalmitte ist überschritten, aber noch liegen mit Spannung erwartete Arbeiten wie „Alpha“ der Cannes-Siegerin Julia Ducournau („Titane“, 2021), der jüngste Film des iranischen Dissidenten Jafar Panahi sowie die neuen Produktionen ausgezeichneter Regiekräfte wie Kelly Reichardt, Joachim Trier und der Dardennes-Brüder vor uns.

Scheme

Zwei makellose Werke, auch wenn sie vom Gros der Filmkritik seltsam lauwarm aufgenommen wurden, haben allerdings der Amerikaner Wes Anderson und der Brasilianer Kleber Mendonça Filho nach Cannes gebracht: Ersterer hat mit „The Phoenician Scheme“ ein weiteres seiner avancierten, kostbar ziselierten Setzkastenlustspiele inszeniert, in dem ein um Benicio del Toro, Michael Cera und Kate Winslets Tochter Mia Threapleton selbstironisch gestimmtes Superstarensemble (unter anderem mit dabei: Tom Hanks, Riz Ahmed, Bryan Cranston und Scarlett Johansson) ein kriminelles Business-Abenteuer mit tausend wunderlichen Pointen orchestriert.

Mendonças Film erzählt in „The Secret Agent“ ebenfalls im weitesten Sinn von internationaler Spionage, stilistisch jedoch vollkommen konträr: In der brasilianischen Hafenstadt Recife, dem Heimatort des Regisseurs, gerät der Titelheld, gespielt von Wagner Moura, 1977 ins Visier von Gangstern. Mendonça setzt seine spektakuläre Story nicht nur mit Lust an makabrem Witz und großartigen Visagen in Szene, sondern färbt sie mit der lokalen Musik jener Jahre, mit Samba, Jazz und Bossa Nova, aber auch mit der Pop- und Kinokultur der späten Siebziger (Spielbergs „Der weiße Hai“ ist prominent vertreten).

Wann die Welt begreifen wird, dass ihr mit Kleber Mendonça Filho („Bacurau“) einer ihrer allergrößten Filmemacher überhaupt zur Verfügung steht, ist weiterhin fraglich. Vielleicht könnte ein Hauptpreis in Cannes in ein paar Tagen daran etwas ändern. Wir bleiben dran.

Stefan Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.