Der Schriftsteller Karl Ove Knausgård

Zum letzten Tanz: Knausgård wagt viel und gewinnt wenig

Der neue Roman "Der Morgenstern" von Karl Ove Knausgård hat knapp 900 Seiten. Wolfgang Paterno hat das Buch an zwei Tagen gelesen.

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Es gibt mindestens zwei Karl Ove Knausgårds. Einmal den norwegischen Schriftsteller, der 1968 in Oslo geboren wurde, später als Aushilfslehrer an einer Dorfschule arbeitete, Kunstgeschichte und Literatur studierte, auf einer Bohrinsel jobbte und seinen Zivildienst in einer psychiatrischen Anstalt leistete. 1998 erschien sein erster Roman "Aus der Welt", die erzählerische Verknäuelung von Sex, Scham und Schuld.

Womit man beim zweiten Knausgård wäre, dem Knausgård der großen Zahlen und grellen Bilder. Ein Mann im Totalchaos seiner Schreibstube, der optisch als zerrauftes Jesus-Double durchgehen könnte: Das ist das Bild, das die Welt von Knausgård hat. Von seinem bisher publizierten Bücherstapel könnte sich jede Playmobil-Figur ins Verderben stürzen: 2009 wurden die ersten drei Bände von Knausgårds autobiografischem Großversuch veröffentlicht, 2010 und 2011 folgten weitere drei. Die im Original titellosen Bücher umfassen insgesamt über 4500 Seiten, avancierten allein in Norwegen zu den größten Bestsellern seit Jahrzehnten, wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Von 2011 bis 2017 erschienen die Bände auf Deutsch: "Sterben", "Lieben", "Spielen", "Leben", "Träumen", "Kämpfen"*. Seiner megalomanen Ich-Ich-Ich-Umkreisung gab Knausgård den Titel "Mein Kampf" mit auf den Weg, was nicht nur in Norwegen aufgrund der Nähe zu Hitlers gleichnamiger Hetzschrift für Kontroversen sorgte. Dem Vorwurf, er könnte im Kern ein Kompromissler sein, musste sich Knausgård, der heute in London lebt, nie stellen.

Nun also "Der Morgenstern", der neue Knausgård, knapp 900 Seiten stark, mit viel Realmagischem, kaum Autobiografischem. Fünf Bände soll der mit "Der Morgenstern" eingeläutete Zyklus am Ende umfassen. Der Roman erzählt von zwei unerträglich heißen Augusttagen in der norwegischen Stadt Bergen, in der plötzlich ein Himmelskörper erscheint. 900 Romanseiten für zwei Tage. Weitere 14 davon  so viel Spoiler darf sein  zeichnen sich im Finale von "Der Morgenstern" für die allfällige Fortsetzung ab. 900 Seiten dividiert durch zwei und das Ergebnis mal 14 ergibt grob gerechnet 6000 Seiten. Zuzutrauen wäre es Knausgård. "Der Morgenstern" illustriert, was den Schwerpunkt und die Verwegenheit von Knausgårds Schreiben ausmacht: die unablässige Bereitschaft, zu weit zu gehen. Warum sich dem neuen Mammutwerk also nicht in Form einer zweitägigen Marathonlesung nähern?

Tag eins

Sofort zoomt sich der Roman in das Leben des Literaturprofessors Arne, der mit seiner Familie die beiden Tage im Sommerhaus verbringt. Man lernt das norwegische Bergen und Umgebung als eine Landschaft wie hingepinselt kennen, dazu Meeresrauschen und Bergeshöhen. Das Böse unter der Sonne schläft aber nicht. Meereskrebse krabbeln und kriechen in nie gesehener Menge am Meeresufer, Katzen werden gemetzelt, ein Stern erscheint am Firmament. Geschichten mit homöopathischem Gruselfaktor, der sich in den 48 Stunden Leseklausur dahinzieht  bis zur lazarusartigen Rückkehr eines Totgeglaubten. In langen, lose miteinander verbundenen Kapiteln widmet sich Knausgård seinem Personal: Da ist die Pastorin Kathrine, die in ihrer Ehe unglücklich ist; der Journalist Jostein, der über eine bizarre Bluttat berichtet; seine Ehefrau Turid, die in einer psychiatrischen Anstalt Nachtwache hält; der Kindergärtner Emil, der für das Windelwechseln bei seinen Schützlingen Energie bei Pink Floyd und Kraftwerk tankt, genauso wie die Kassiererin Iselin, die Billie Eilish und Ariana Grande hört.

Seite 204, erster Lesezwischenstand: "Der Morgenstern" ist in Pop und Rock getunkt, während Knausgård den Alltagstrott seiner Antihelden durch die Akzentuierung von Ausscheidungsvorgängen und Windelwechseldramen betont. Ein neunköpfiges Ensemble, das mit Gott und dem großen Rest hadert, sich in jeweils eigenen Worten und Kapiteln die Erlösung von der irdischen Pein erhofft. Irgendwann erblicken alle den Stern.

Die Tiere  Hirsche, Krebse, Spinnen, Katzen, Kreuzotter, Habichte, Füchse die diesen Roman bevölkern, fangen fast unmerklich an, sich auffällig zu verhalten: "KRUUAAA!", lässt Knausgård ein Wesen brüllen. Unfreiwillig komisch wird es, wenn Marienkäfer hitchcockmäßig zu Miniflugmonstern werden.

Dennoch kurz das Buch zur Seite gelegt. Schnelle Nachschau, ob sich der schleichende Wahnsinn in der Wirklichkeit entfaltet. Falscher Alarm. Die Vögel sitzen wie gewohnt im Baum und sind nichts anderes als Vögel.

Knausgård fädelt seinen Reigen an Geschichten geschickt ein, indem er unterschiedliche Aggregatzustände des Lebens  verkörpert von seinen in Abstufungen scheiternden Heldinnen und Helden  miteinander in Berührung bringt. Seinen Figuren gönnt er dabei herzlich wenig Spielraum: "Morgen war schließlich auch noch ein Tag", lässt er eine mantraartig wiederholen. "Der Tod gehört zum Leben", darf eine andere im Seichten stranden.

Knausgård wagt viel – und gewinnt wenig. Man kann das Buch aufregend unheimlich finden. Oder unheimlich unaufregend. Knausgård versucht sich an einem Spagat, der nicht immer ganz gelingt. Man schaut den Menschen in Bergen zuerst interessiert, am Ende eher teilnahmslos beim Weiterleben zu. Sie werden weiterhin ganze Tabaktrafiken leerrauchen und vom vielen Bierflaschenhalten Hornhaut in den Handflächen bekommen. Und ihren Morgenkaffee auf Terrassen mit zauberhaftem Blick auf Fjorde und glänzende Berge genießen. Im wohltemperierten Mittelstandmilieu bleibt der Stern eine Randerscheinung. Unter dem breiten Dach des gewöhnlichen Schreckens dürfen die Seelsorgerin Kathrine und der Reporter Jostein, der Knausgård in Richtung Klischee abrutscht, weiter ihrem Alltag frönen. Menschheitsgeschichte, wird Knausgård nicht müde zu betonen, schnurrt manchmal auf kleine Orte zusammen. In seinem Bergen lässt er das Selbstverständliche passieren, das zugleich, in den besten, eher raren Momenten dieses Romans, das Frappierende ist.

Gegen Ende des ersten Lesetages ist der schleichenden Verknausgårdisierung kaum zu entkommen. Der Autor ist für seine Detailversessenheit und die ausufernde Ausführlichkeit seines Erzählens bekannt. In "Der Morgenstern" werden seitenlang Autoschlüssel gesucht, Waschmaschinen mit Schmutzwäsche befüllt und Fettstreifen von Koteletts geschnitten. Der erste Tag endet im Buch wie in der Leseklause ins Mikroskopische gedehnt. Tiefe Nacht. Die Zeit wie in Zeitlupe. Erschöpft legt man auf Seite 495 das Lesebändchen ins Buch und klappt es zu. Diagnose: Überdosis. Jeder weitere Knausgård-Satz wäre Schmerz. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.

 

Dasselbe Buch, der nächste Tag

Endlich! "Ein Morgenstern", stellt Egil, selbst ernannter Bibelforscher und Sohn von Beruf, beim Betrachten des Himmels nach etwas über der Hälfte des Romans erstmals fest: "Morgenstern heißt auf Latein Luzifer, was Lichtträger bedeutet." Spätestens jetzt wird die Ahnung zur vagen Gewissheit: Der Weg ist lang und kurvenreich, und noch ist völlig unklar, zu welchem Ziel die Reise führen soll. Bricht der Untergang des Planeten an? Ist es vorbei mit der Menschheit? Endet gar alles im Guten? Eher nicht. Für Optimismus und Gefühlstralala ist Knausgård nicht bekannt. "Das Ende naht", notierte einst der französische Philosoph Jacques Derrida: "Aber die Apokalypse ist von langer Dauer." Gut möglich, dass Knausgård, gleichermaßen angeekelt wie fasziniert, sich in den kommenden Romanen weiter dem kriechenden Weltverfall widmen wird. "Der Morgenstern" wirkt wie eine gigantische Einladungskarte zum letzten Tanz. Hierzulande ist meteorologischer Sommerbeginn. In "Der Morgenstern" beschleicht einen unweigerlich das Gefühl, der Bruthitzesommer währte ewig.

Der letzte Satz des zweiten Tages in "Der Morgenstern" lautet: "Ich weiß, was dieser Stern bedeutet. Er bedeutet, dass es begonnen hat."

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.