Zum Tod von Gerhard Roth: Unterm Nussbaum

Das Schreiben hatte ihn in der Welt gehalten: Christa Zöchling erinnert sich an den großen österreichischen Autor Gerhard Roth.

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Gerhard Roth, mitten im Krieg in Graz geboren, ist am Dienstag vergangener Woche gestorben. Er war längere Zeit schon krank gewesen. Mit medizinischem Interesse registrierte er, wie sein ehemals starker Körper nach und nach aufgab. Er sprach viel darüber, in sachlichem Protokollstil. Mitleidlos. Es gab Wochen, die er im Bett verbrachte, immer neue Lagen probierte, in denen er dennoch schreiben könnte; ein Körper im Schmerz. Aber Schreiben musste sein. Das hielt ihn in der Welt.

Die Frage, was leichter zu ertragen sei, die Kapitulation des Körpers oder jene des Geistes, war für ihn entschieden. Wenn er sich durch die Lagunenstadt schleppte, um seine Venedig-Trilogie fertigzubringen, war er vollgepumpt mit Schmerztabletten. Er musste Städte und Landschaften erwandern, erschauen, fotografieren, Archive aufsuchen, mit Menschen reden.

Zuletzt war sein Radius klein geworden. Er erzählte am Telefon von den Enten, die jeden Tag an den Fenstern seines Hauses in der Südsteiermark vorbeiwatschelten, sieben Enten, immer zur selben Zeit; von der einen Schüchternen, mit ihrem verzagt klingenden Quaken; den anderen, die heftig um die Führerschaft stritten. Man vergaß die Zeit und war gebannt von diesem Drama aus Gewalt, Begehren und Unterwerfung; was Enten eben so umtreibt.

Gerhard Roth schrieb bis zuletzt. Um die Wette mit der Zeit. Bis ihn ein Schlaganfall halbseitig lähmte und nichts mehr ging. Dann ging er.

Und mit ihm eine Zeit, ein Künstlerdasein, ein Milieu. Viele von Roths Freunden, Wolfgang Bauer, Gunter Falk, Alfred Kolleritsch, Oswald Wiener, sind vor ihm gestorben. Das machte einsam. Nur Peter Handke ist noch da. Und Günter Brus.

Es gab eine Zeit, da galt Graz als Literaturhauptstadt des deutschsprachigen Raums. Ein paar Jahre lang hatten sich gesellschaftliche Debatten an der Kunst entzündet. Es brannte lichterloh, und Gerhard Roth war mittendrin; er verteidigte seine Künstlerfreunde gegen das „Schnauben aus der rechten Ecke“, riskierte existenzbedrohende Klagen, legte sich mit Jörg Haider und Kurt Waldheim an. Er schätzte Bruno Kreisky, doch Politiker, mit denen er gerne gesprochen hätte, erlebte er immer seltener.

„Unser Land ist der lebendige Beweis für die Relativitätstheorie: Nichts ist wirklich, nichts ist fassbar – jede Erkenntnis, jedes Versprechen, jede Zusage lösen sich sofort in nichts auf, schlagen in das Gegenteil um“, hieß es in einem Roth-Kommentar im profil 1988. Bis heute gültig.

Gerhard Roth litt an seiner Heimatstadt. An ihrem aufgeblasenen Kleinbürgertum, am Geltenwollen, an der Verstocktheit. In seinem autobiografischen Roman „Alphabet der Zeit“ erzählt er von seiner Kindheit und Jugend in Graz, von demütigenden Erfahrungen des Erwachsenwerdens in einem Hort des Schweigens. Auf der Spur der Nazi-Vergangenheit seiner Eltern stößt er auf eine Geschichte aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten, von Auslassungen und Neuinterpretationen. Diesen Roman hat er sich aus dem Herzen gerissen.

Roth schildert eine Szene, in der das Unglück einer ganzen Generation steckt. Ein Dokumentarfilm mit dem Titel „Der Nürnberger Prozess“ erweckt seine Aufmerksamkeit. Der damals 15-Jährige denkt, es gehe um irgendeine Gerichtsverhandlung. Nur zwei, drei Besucher sitzen im Kinosaal. Und dann flimmern die Leichenberge über die Leinwand; Genickschüsse, Gaskammern und Hinrichtungen durch den Strang. Immer wieder will er wegschauen, kann aber nicht. Er läuft weinend durch die ganze Stadt nach Hause – und dann erzählt Roth, wie das war, als er daheim in die Küche trat und alle da waren: Vater, Mutter, Onkel, Tante.

Nach der Matura begann Roth in Graz ein Medizinstudium, weil sein Vater, ein Arzt, sich das von ihm erwartete. Er brach es ab, um seine junge Familie zu ernähren, und war ein paar Jahre Angestellter des Grazer Rechenzentrums, zuletzt in leitender Stellung. Er kündigte, um als Schriftsteller zu leben. Mit seiner späteren Frau Senta mietete er eine kleine Keusche in der Südsteiermark, ohne fließendes Wasser, Plumpsklo hinterm Haus. Senta pendelte zur Arbeit nach Graz, während sich Roth in Decken hüllte, fror und schrieb und schrieb.

Einmal schrieb er mit der Hand seitenweise Moby Dick von Herman Melville ab. Weil nichts anderes mehr ging.

Gerhard Roth war ein schüchterner Mensch. So steckte er seinen Fotoapparat ein, ging in der südsteirischen Hügellandschaft von Haus zu Haus und fragte die Nachbarn, ob er sie fotografieren dürfe. Das war ein Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, in der Welt zu sein. Man trank Schnaps, und sie erzählten aus ihrem Leben; ihre Gedanken und Abgründe verwandelte Roth in Literatur. Sie finden sich in den beiden mehrbändigen Romanzyklen „Die Archive des Schweigens“ und „Orkus“, ihre Fotos in den von Roth gestalteten Bildbänden.

Gerhard Roth setzte sich mit flatterndem Herzen an die Stammtische in den Wirtshäusern dieser Gegend. Er hielt oft dagegen. Es wurde viel getrunken, und es wurde laut. In der ersten Zeit wollte man ihn aus dem Dorf jagen, sein Haus anzünden. Es wurden Unterschriften gegen ihn gesammelt. Er lächelte, als er dies meinem profil-Kollegen Wolfgang Paterno erzählte. Er war erleichtert, als das aufhörte. Er hatte sich Zugehörigkeit verschafft. Roth regte an, im Dorf St. Ulrich in Greith ein Kulturhaus zu errichten. Das gibt es nun, seit mehr als 20 Jahren, mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen.

Roth war ein Stadtmensch, der gern in Wien lebte, doch in den Sommern saß er unter seinem Nussbaum in Kopreinigg. In Graz wollte er nicht einmal begraben sein. Jetzt wird er unter dem Nussbaum ruhen.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling