Tatort: Marktplatz in Mannheim
Islamismus

Nach dem Anschlag: Der Kampf um Mannheim

Nach dem tödlichen Messerattentat von Mannheim sehen sich Rechtsaußen-Gruppierungen in ihrer Ablehnung des Islam bestätigt, die Regierung verspricht schärfere Abschiebegesetze, und muslimische Intellektuelle üben Kritik an ihren offiziellen Repräsentanten. Wer erobert die Deutungshoheit?

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Der Marktplatz von Mannheim ist weitgehend leer, nur in der Mitte sind ein paar Leute damit beschäftigt, einen Infostand des Vereins „Bürgerbewegung Pax Europa“ vorzubereiten, der gegen die „schleichende Islamisierung Europas“ kämpft und den Bau von Moscheen in Deutschland verhindern will. Es ist Freitag, der 31. Mai, mittags kurz vor halb eins. Ein Livestream zeigt die „Pax Europa“-Mitarbeiter in ihren hellblauen Jacken, die sich mit Infomaterial zu schaffen machen. Plötzlich Schreie. Die bis dahin ruhig geführte Handkamera wird hektisch bewegt. Ein Mann mit ungestutztem Vollbart und in Adidas-Trainingshose stürzt mit einem Jagdmesser in der rechten Hand auf die „Pax Europa“-Leute zu. Ein weiteres Video fängt die Szene aus einer anderen Perspektive ein. Polizisten umringen den Attentäter, schreien „Messer weg“. Im Chaos überwältigt einer der Einsatzkräfte, Rouven L., anstelle des Attentäters versehentlich einen „Pax Europa“-Mitarbeiter, was dem Attentäter die Gelegenheit verschafft, auf den Polizisten einzustechen. Schließlich gibt ein Beamter einen Schuss ab, der Attentäter fällt getroffen zu Boden.

Zu spät. Der Polizist Rouven L., 29, stirbt zwei Tage später an den Folgen der Messerstiche. Sechs „Pax Europa“-Mitarbeiter, darunter der bekannte Aktivist Michael Stürzenberger, sind verletzt. Der Attentäter liegt im Krankenhaus, er wird überleben. Es handelt sich um Sulaiman A., 25 Jahre alt, eingewandert im Jahr 2013 aus Afghanistan. Nach einem abgelehnten Asylantrag erhielt er 2023 eine befristete Aufenthaltsgenehmigung, weil er mit einer Frau in Deutschland ein Kind gezeugt hatte, das die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und für das Sulaiman A. das Sorgerecht hat.

Das Messerattentat von Mannheim ist nicht der erste Terroranschlag mit islamistischem Hintergrund in Deutschland und auch nicht der opferreichste. Doch der Schock und die Empörung sind enorm. Die verstörenden Videos der Tat verstärken die Emotionen in der Bevölkerung und verleihen dem Attentat zusätzliches politisches Gewicht.

Eine Debatte über Islamismus, Migration und Abschiebungen ist entbrannt, aber sie verläuft anders als bisher. Islamkritiker erfahren plötzlich mehr Aufmerksamkeit und weniger Ablehnung; Was als rassistisch galt – oder: abgetan wurde? –, hat nun bessere Chancen, ernsthaft diskutiert zu werden. Tabus werden gebrochen. Bestes Beispiel: Die SPD will Abschiebungen nach Afghanistan zulassen. Konkret berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am Dienstag, vier Tage nach dem Attentat von Mannheim, über eine Beschlussvorlage für die Innenministerkonferenz mit dem Titel: „Rückführung von Personen, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen – auch nach Afghanistan und Syrien“. Vorgelegt vom Hamburger Innensenator Andy Grote, SPD, gutgeheißen von Kanzler Olaf Scholz. Auch die CDU hat sich weit vom „Wir schaffen das!“-Kurs ihrer vormaligen Parteichefin und Kanzlerin Angela Merkel entfernt.

Ist das ein erstes Anzeichen von Anlassgesetzgebung? Schock, Panik und einer politischen Sturmwarnung von rechts geschuldet? Oder ein verschämtes Bekenntnis, bisher tatsächlich bei einigen der wichtigsten Themen der vergangenen Jahre – Migration, Islamismus, Terror – versagt zu haben? Wenige Tage vor der Wahl zum Europäischen Parlament an diesem Sonntag dominiert das Attentat von Mannheim die Debatte.

Der Vorwurf lautet, Regierungen und auch die Öffentlichkeit reagierten gleichgültig, wenn es um islamistisch motivierte Straftaten ginge. „Aber zu Mannheim schweigen sie alle, die sonst die Gefahr zu erkennen meinen und warnen und Widerstand leisten und die Demokratie schützen wollen“, schreibt ein Kommentator der „Bild“-Zeitung und vergleicht die Massendemonstrationen „gegen rechts“ mit den Reaktionen auf den radikalen politischen Islam. „Wo ist die Demo gegen Islamismus?“, fragt „Bild“.

Schweigen wirklich alle? Das behaupten Gruppierungen des rechten Randes, allen voran die Alternative für Deutschland (AfD). Doch das stimmt nicht. Sofort nach Bekanntwerden der Tat beeilen sich alle Repräsentanten der Republik von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz abwärts, den Anschlag zu verurteilen. Allerdings mischen sich in den Chor der Ächtungen auch bald Stimmen, die Zweifel an der eigenen bisherigen Politik erkennen lassen. „Schluss mit falscher Toleranz“, schreibt Bundesfinanzminister Christian Lindner auf der Online-Plattform X, und Ricarda Lang, Bundesvorsitzende der Grünen, sagt in einer ARD-Diskussionssendung, der Islamismus müsse bekämpft werden, und „wir hatten wahrscheinlich manchmal die Tendenz, dass manche vielleicht vor der Debatte zurückgeschreckt sind, weil sie dachten, damit helfen wir am Ende den Rechtspopulisten.“ Die Selbstkritik ist deutlich, doch allfällige Konsequenzen daraus bleiben äußerst vage.

Ganz rechts hingegen herrschen Triumphgeheul und Selbstgewissheit. Die „Junge Alternative“ (JA), die als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte Jugendorganisation der AfD, hält in Mannheim eine „Mahnwache“ ab, die unter dem politischen Slogan steht: „Remigration hätte diese Tat verhindert“. „Remigration“ ist der neue Kampfbegriff der Rechtsaußen-Gruppierungen. Offiziell behauptet die AfD, dahinter verberge sich nichts anderes als die Forderung nach Ausweisung von Personen, die keinen Aufenthaltstitel hätten und somit von Rechts wegen abgeschoben werden müssten. Bei einem Treffen rechtsextremer Aktivisten wie etwa dem früheren Sprecher der Identitären Bewegung Österreich, Martin Sellner, mit Mitarbeitern der AfD in Potsdam im November des vergangenen Jahres wurde jedoch nach Recherchen des Medienhauses „Correctiv“ eine ganz andere, gänzlich rechtswidrige Interpretation besprochen. Demnach sollten auch deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund, die „nicht assimiliert“ seien, außer Landes gebracht werden. Die AfD bezeichnet dies als „Lüge“.

Sellner, nach wie vor einer der Köpfe der rechtsextremen Szene, bedankte sich in einem Video bei der Jungen Alternative für deren „Mahnwache“ und geißelte seinerseits die behauptete Gleichgültigkeit der anderen Parteien. Tatsächlich wurde in Mannheim zeitgleich mit der „Mahnwache“ der JA eine deutlich besser besuchte Menschenkette unter dem Motto „Zusammenhalt gegen Gewalt, Hass und Hetze“ gebildet, zu der alle anderen Parteien aufgerufen hatten.

Im Unterschied zu einem Aufruf zur absichtlich vieldeutigen „Remigration“ ist gegen „Zusammenhalt“ nichts einzuwenden, bloß: Warum nicht eine Demonstration gegen „Islamismus“, wenn die Tat ganz offensichtlich aus diesem Motiv begangen wurde?

Der Eindruck, dass der Islamismus im Gegensatz zu Rassismus oder Rechtsextremismus nicht genannt werden soll, täuscht offenbar nicht. Die Einsicht der Grünen Ricarda Lang, dass man nicht aus Angst davor, den Rechten in die Hände zu spielen, vor der Islamismus-Debatte zurückschrecken solle, setzt sich nicht durch. Auch die große Kundgebung in Mannheim am Montag, an der 8000 Leute teilnahmen, trägt einen auffallend unspezifischen Titel: „Mannheim hält zusammen“. Bloß an einer Stelle erwähnt der Oberbürgermeister in seiner Ansprache, dass es künftig möglich sein müsse, „Personen einen Aufenthaltstitel zu versagen, wenn sie einen islamistischen Gottesstaat fordern“. Sonst ist Islamismus kein Thema.

Bei dieser Kundgebung beteiligen sich auch ein sunnitischer Imam und ein Vertreter der alevitischen Gemeinde an einem interreligiösen Friedensgebet. Der Wiener SPÖ-Bezirksrat Muhammed Yüksek kommentiert dies auf der Online-Plattform X zufrieden so: „Wo sind die Stimmen der Musliminnen haben sie gesagt!“ Aber reicht angesichts einer grassierenden islamistischen Radikalisierung ein öffentliches Gebet mit dem Aufruf „Gott will, dass wir in Frieden zusammenleben“ aus?

Kritische Muslime schütteln den Kopf. Sie haben starke Einwände gegen die Vorgangsweise der großen islamischen Verbände und auch gegen die der staatlichen Behörden. Was sie fordern, unterscheidet sich naturgemäß von den Massenausweisungs-Ideen der Rechten. Murat Kayman etwa, Mitbegründer der „Alhambra Gesellschaft“, ein Zusammenschluss von „Muslimen für ein plurales Europa“, geißelt die „bisherige Strategie des Wegduckens und Wartens, bis das Unwetter vorbeizieht“, und sieht eine Verantwortung der muslimischen Verbände. Diese hätten zwar nicht den konkreten Täter zu seiner Tat motiviert, sie ließen jedoch eine innerislamische Denkkultur zu, derzufolge „der eigene Glauben als eine Art identitäre Wagenburg verstanden wird, die von Islamfeinden umzingelt ist“, so Kayman auf der Plattform X, und diese Mentalität fördere radikale Überzeugungen und eine „identitäre Gegnerschaft zur hiesigen Gesellschaft“.

„Die bisherige Strategie des Wegduckens und Wartens hilft uns nicht.“
 

Murat Kayman, „Alhambra Gesellschaft“

So bleibt Selbstkritik gegenüber bedenklichen Strömungen innerhalb der muslimischen Community auf der Strecke. Aber auch die Mehrheitsgesellschaft scheut davor zurück, heikle Entwicklungen anzuprangern.

Ahmad Mansour, Sohn arabischer Israelis, der als Autor seit Langem vor dem politischen Islam warnt, schreibt auf „Focus online“, dass „linke Ideologen, die durch Identitätspolitik und Postkolonialismus unterwandert wurden, jede kritische Auseinandersetzung mit Minderheiten wie Muslimen als ‚rassistisch‘“ bezeichneten. Tauche ein offensichtliches Problem auf, würde die Mehrheitsgesellschaft dafür verantwortlich gemacht.

Immunisiert von innen und von außen gedeihen gefährliche Tendenzen ungehindert. Etwa Organisationen wie „Muslim interaktiv“ oder „Generation Islam“, die in den vergangenen Monaten in Hamburg und Essen Demonstrationen organisierten, bei denen die Errichtung eines „Kalifats“, also eines islamischen Gottesstaates gefordert wurde. Eren Güvercin, ebenfalls Mitglied der Alhambra Gesellschaft, fordert seit Langem, dass die deutschen Behörden gegen diese Organisationen vorgehen. Einer der Ideologen dieser islamistischen Bewegung habe laut Güvercin den Attentäter von Mannheim in den sozialen Medien als „Bruder“ bezeichnet und die Parole ausgegeben, dass man sich als Muslim nicht von der Tat distanzieren dürfe, weil man sich sonst zum „braven Hund der Ungläubigen“ mache.

Im Gegensatz zur AfD und rechtsextremen Aktivisten üben muslimische Intellektuelle Kritik an spezifischen Missständen. Aber was spricht eigentlich gegen die laut gewordene Forderung nach Großdemonstrationen gegen Islamismus? Der übliche Einwand: Es würde implizit bedeuten, dass Muslime unter Generalverdacht gestellt würden. Aber dieser Einwand wäre hinfällig, wenn der Wunsch nach einer kollektiven Klarstellung von der muslimischen Community selbst käme. Deren Abscheu angesichts der Bluttat von Mannheim und deren Ablehnung von absurden Ideen wie einem Kalifat in Deutschland wären ebenso ehrenwerte wie einleuchtende Motive für Kundgebungen. Ähnlich wie die italienische Bevölkerung immer wieder gegen die Mafia auf die Straße gegangen ist, um ein Zeichen gegen das Verbrechen und für den demokratischen Rechtsstaat zu setzen.

Bisher jedoch scheinen nur rechte Agitatoren entschlossen, ihre Interpretation des Attentats von Mannheim zu verbreiten. Remigrations-Ideologe Martin Sellner und die Identitären-Nachfolgeorganisation „Die Österreicher“ riefen für Donnerstagnachmittag zu einer Kundgebung vor der Deutschen Botschaft in Wien auf. Ihre Forderung: Die Regierungen Österreichs und Deutschlands sollen „umgehend Maßnahmen zur Sicherung der Städte und zur Einleitung der ersten Phase der Remigration“ ergreifen.

Unterdessen sperrte die Mannheimer Stadtverwaltung den Marktplatz für Versammlungen und erklärte ihn zum Gedenkort für den getöteten Polizisten. Die AfD brachte dagegen umgehend eine Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht ein.

Der Kampf um Mannheim geht weiter.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur