Robert Treichler

Angela Merkel, oder…

… wie wir lernen, auf der falschen Seite zu stehen und dennoch das Richtige zu tun.

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Das ist kein politischer Nachruf auf die abtretende deutsche Kanzlerin, sondern bloß die Erzählung einer Episode aus ihrer 16 Jahre langen Kanzlerschaft; einer Episode, in der Angela Merkel politisch auf der falschen Seite stand. Das mag unfair anmuten, angesichts vieler Achtung und Respekt einflößender Momente in Merkels Amtszeit. Doch erstens hat profil Merkel ohnehin oft positiv beurteilt, etwa als sie 2015 von dieser Redaktion zur „Person des Jahres“ gewählt wurde (Titel: „Mensch, Merkel!“). Und zweitens wird sich zeigen, dass die baldige Ex-Kanzlerin am Ende gar nicht so schlecht dasteht.

Beginnen wir mit dem Schlusspunkt einer langen Debatte: Am 30. Juni 2017 stimmt der Deutsche Bundestag über einen Gesetzesentwurf ab, der die Ehe für alle, also die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und das Recht auf Adoption, vorsieht. Die große Mehrheit votiert mit Ja, doch Kanzlerin Merkel stimmt dagegen.

Zu diesem Zeitpunkt ist in Umfragen bereits eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für die Ehe für alle, selbst unter der Wählerschaft der konservativen Parteien CDU und CSU sind es 73 Prozent. Nicht aber Angela Merkel.

Manche erstaunt die Rückwärtsgewandtheit der Kanzlerin in dieser Frage, schließlich hatte sie sich in der Flüchtlingskrise 2015 als weltoffen und tolerant erwiesen. Doch Merkel agierte damals aus menschlichen Motiven, nicht aus ideologischen. Sie ist nicht progressiv, sie bleibt eine Konservative. Und ihre Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe hat eine lange Geschichte.

„Wie ist der Geruch Ihrer Kindheit?“ Diese Frage richtete die Schauspielerin Iris Berben für das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ 2021 an Merkel. Deren Antwort: „Kiefern und Heu und im Herbst der Duft von Kartoffeln im Kartoffeldämpfer.“ Merkel wuchs im ländlichen Raum auf, ihr Vater war bekanntlich evangelischer Pastor. Ihre Kindheit ist von christlichen Werten geprägt, wie sie selbst sagt.

Die Homoehe hat in diesem Weltbild keinen Platz. Als sich die Meinung dazu in der Gesellschaft wandelt, nimmt Merkel das zur Kenntnis, doch sie geht nicht mit. „Ich muss mich da jetzt nicht verbiegen“, sagt sie einmal, und: „Für mich ist die Ehe das Zusammenleben von Mann und Frau.“ Als Kanzlerin setzt sie sich dafür ein, dass die Heterosexuellen vorbehaltene Ehe gegenüber der für Homosexuelle eingeführten Lebenspartnerschaft zunächst bessergestellt bleibt, etwa im Steuerrecht.

Doch Merkel wird nachdenklich, und das in aller Öffentlichkeit. Vor der Bundestagswahl 2013 wird sie in der ARD-Sendung „Wahlarena“ gefragt, wie sie zur Adoption durch Homosexuelle stehe. Sie antwortet zögerlich: „Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich mich schwertue mit der kompletten Gleichstellung. (…) Ich bin unsicher, was das Kindeswohl anbelangt.“ Damals bezeugten Studien bereits unisono, dass sich Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern genauso gut entwickeln und genauso glücklich sind wie andere mit heterosexuellen. Merkel  hat dennoch Bedenken.

Schließlich, im Juni 2017, der Paukenschlag. Merkel beschließt, den Abgeordneten im Bundestag die „Gewissensentscheidung“ vorlegen zu lassen, und das im Wissen, dass ein solches Votum zugunsten der Ehe für alle ausgehen werde – und damit gegen Merkels eigene Überzeugung. Genau so kommt es.

Unmittelbar nach der Abstimmung gibt Merkel vor den Medien eine Erklärung ab. Was sie damals, 2013, gesagt habe, sei „eine auch für mich nicht befriedigende Antwort“ gewesen. Sie habe sich seither „sehr, sehr viel mit der Frage des Kindeswohls beschäftigt“ und sei zu dem Schluss gekommen, dass die Adoption auch durch homosexuelle Paare möglich sein solle. Doch die Ehe sei für Merkel eine Verbindung „von Mann und Frau“, und deshalb habe sie selbst mit Nein gestimmt.

Selten kann man miterleben, wie eine Spitzenpolitikerin so sehr mit dem eigenen Gewissen ringt. Am Ende verteidigt Merkel zwar ihre individuelle Überzeugung, doch sie will sie nicht mehr zur Leitlinie ihrer Partei oder gar der Bundesrepublik machen. Sie hat wohl erkannt, dass sie in dieser Frage auf der falschen Seite steht, auch wenn sie das nicht so formulieren würde. Merkel tritt zur Seite und lässt der Geschichte ihren Lauf.

Aus dieser Episode kann man viel lernen. In einer Zeit, in der Rechthaberei Plattformen wie Twitter als Treibstoff dient, ist das Relativieren, das Hinterfragen oder gar Hintanstellen der eigenen Meinung selten geworden wie das Spitzmaulnashorn. Die Tatsache, dass jede Äußerung im Netz archiviert bleibt, trägt dazu bei, dass Leute unwiderruflich punziert werden. Es ist aber nicht jeder homophob, der einmal der Meinung war, Homosexuelle sollten kein Kind adoptieren dürfen. Manche haben ihre Meinung geändert. Merkel 2013 versus Merkel 2017 ist das beste öffentliche Beispiel. Schließlich hat die Skeptikerin die Ehe für alle ermöglicht, obwohl sie dagegen stimmte.  

Leadership kann bedeuten, der gegenteiligen Meinung den Vortritt zu lassen. Dieser Satz steht garantiert in keinem Ratgeber für Führungskräfte. Sollte aber.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur