Leitartikel

Christian Rainer: Lässt man den Pöbel wählen?

Die Chat-Affäre rückt näher an das Bundeskanzleramt. Die Volkspartei arbeitet am Plan B.

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Eine Leserin schreibt mir heute Morgen: „Ist die Party jetzt vorbei?“ Ich muss nachdenken. Was meint sie? Corona? Nein. Es geht der prononciert bürgerlichen Dame darum: Wie gefährlich sind die immer neuen Wellen an WhatsApp-Nachrichten für Sebastian Kurz und damit für den Bestand der Bundesregierung? Wird es Neuwahlen geben?

Bis vor wenigen Wochen hätte ich geantwortet: Natürlich nicht. Die Grünen würden bis zu einem Drittel ihrer Wähler verlieren, das zeigen recht verlässlich die Umfragen, und die Grünen wollen ja regieren. Die Volkspartei würde vielleicht nicht an Zuspruch verlieren, aber sie stünde danach erst recht wieder mit den Grünen als einzigem möglichen Koalitionspartner da.

Inzwischen ist mit Herbert Kickl als FPÖ-Chef die Option einer neuerlichen türkis-blauen Koalition vorerst verschwunden, mit Norbert Hofer wäre das schon irgendwie möglich gewesen. Und die Sozialdemokratie gibt nicht die Nummer zwei (ein Platz, der mit dem unzeitigen Vorschlag zur schnellen Einbürgerung von Zuwanderern nicht unbedingt gefestigt wurde – das nur am Rande). Also rational heruntergebrochen: Neuwahlen ergaben und ergeben für ÖVP und Grüne keinen Sinn.
 

„Rational heruntergebrochen.“ Eben. Es könnte ja sein, dass wir einer ganz anderen, einer irrationalen Entwicklung entgegensehen, dass die österreichische Innenpolitik endgültig ins Rutschen kommt, dass  Panik in der Volkspartei um sich greift, dass die ÖVP alles aufs Spiel setzen muss. Bis gerade noch wäre die Koalition allenfalls wegen ideologischer und struktureller Differenzen zerbrochen: pro und kontra Migration; unberechenbare Basis da, autoritär geführte Partei dort. Inzwischen hängt die Wahrscheinlichkeit der Implosion dieser Regierung aber eher mit jener anderen Frage zusammen: ob die Veröffentlichung weiterer Chats Sebastian Kurz als Kanzler, als ÖVP-Chef an den Rand des Abgrunds drängen wird. Die immer heftigeren Attacken der Volkspartei auf die Justiz und damit auf eine grüne Ministerin sind inzwischen schon mehr als Ablenkungsmanöver und Gegenangriffe, sie erscheinen als kalkulierte Panik.

Wie der Bestand der Koalition schien auch die Standfestigkeit des Kanzlers außerhalb jeder Diskussion. Der allgegenwärtige Kommentator Peter Filzmaier beschwichtigte kürzlich, entscheidend für das weitere Geschehen sei allein jene Justiz: ob es irgendwann zu Anklagen kommen werde und ob zu Verurteilungen. Nun, da bin ich anderer Meinung. Disclosure (Verzeihung, ist mein neues Lieblingswort, kommt daher an dieser Stelle gehäuft vor): Zwischen dem Verfassen des ersten Teils dieses Kommentars und der restlichen Zeilen (also jetzt) diskutierte  ich bei Ingrid Thurnher in der ORF-Sendung „Politik live“.

Ich will nicht überinterpretieren, aber mein Eindruck war, dass andere Teilnehmer wie die Berater Thomas Hofer und Josef Kalina, vielleicht auch „Kurier“-Chefredakteurin Martina Salomon, meine von Filzmaier abweichende Argumentation teilen, sie jedenfalls nicht für eine journalistische Zuspitzung halten: Entscheidend für die unmittelbare Zukunft des Landes ist, was noch an WhatsApp- oder Mailnachrichten auftauchen wird. Der Fundus – die „Blackbox“, wie Thomas Hofer es nennt – enthält Zigtausende weitere Dokumente, Schnipsel, Wortbomben. Die Staatsanwaltschaft hat längst nicht alles gesichtet, wir Journalisten ebenso wenig. Vor allem: Die potenziellen Verfasser tappen selbst im Dunkeln, wenn sie zu rekonstruieren versuchen, was sie in den vergangenen Jahren so geschrieben haben. Man frägt daher regelmäßig ausgerechnet bei uns nach, ob wir denn „etwas“ wüssten.

Denn: Ein einziges über die Maßen ungebührliches Wort, ein zynischer Satz des Bundeskanzlers könnte die Regierung zu einer Vergangenheitsform machen. Bei Schmid waren es schlussendlich nicht rechtliche Fragen, die ihn zum Rücktritt zwangen, sondern die Bezeichnung von Menschen als „Pöbel“,  von Beamten als „Tiere“, die Herabwürdigung von Betriebsräten und Flüchtlingen.

Was passiert, wenn entsprechendes Material aus dem Bundeskanzleramt auftaucht? (Anmerkung: Wir haben nichts Derartiges gesehen.) Der Regierungschef könnte zurücktreten und sein Amt (und die ÖVP-Führung) übergeben. Vielleicht zwingt ihn der Koalitionspartner zu diesem Schritt. Wahrscheinlicher: Kurz  geht in Vorlage. Er macht die Justiz, die Staatsanwaltschaft, die Justizministerin, damit die Grünen verantwortlich für die Vorgänge: „Amtsmissbrauch“, „Linke“, „politisch motiviert“. Er kündigt selbst die Regierungszusammenarbeit auf. Er lässt wieder wählen. Und: Angesichts des Zustands der Opposition, angesichts der Umfragewerte der Grünen hätte die Volkspartei in der Opferrolle und mit einer „Jetzt erst recht“-Strategie Chancen auf einen fetten Wahlsieg. An diesem Plan B arbeitet die Partei wohl schon, die erwähnten Angriffe auf die Justiz sind der Unterbau.

Im Anschluss an den Text meiner Kollegen Stefan Melichar und Michael Nikbakhsh an dieser Stelle in der zurückliegenden Ausgabe: Was ist „privat“? Ich argumentiere hier: Der Kanzler, die Regierung würden eher über persönliche Bemerkungen stürzen als über Paragrafen. Genau das ist Thomas Schmid mit „Pöbel“, „Tiere“, „Fuck that“ zugestoßen, mit seinem öffentlich gewordenen „privaten“ Weltbild war er als ÖBAG-Chef nicht mehr tragbar. „Privat“? Jedenfalls waren es private Bemerkungen ohne berufliche Relevanz in einer privaten Unterhaltung.

Schmid hat sich entschuldigt. Niemand kritisierte die Veröffentlichung durch alle Nachrichtenmedien des Landes. Warum? Weil das Weltbild öffentlicher Personen öffentliches Gut ist. Das ist der Preis für privilegierte Stellung, hohes Einkommen, Selbstwertgefühl und -erfüllung.

Christian   Rainer

Christian Rainer

war von 1998 bis Februar 2023 Chefredakteur und Herausgeber des profil.