Meinung

Der Westen muss Vučić im Kosovo klare Grenzen aufzeigen

Die EU will den Balkan befrieden. Der Kuschelkurs mit Serbiens Präsident Aleksandar Vučić bewirkt das Gegenteil.

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Die Lage im Kosovo ist gefährlich wie seit Jahren nicht mehr. Seit 2004, als Unruhen ausbrachen, gab es nicht mehr ein so ethnisch aufgeladenes Gewaltpotenzial. Aber der Reihe nach. Was ist vergangenen Sonntag passiert?

In Banjska, einem kleinen Dorf im Nordkosovo, tauchte eine 30 Mann starke, serbische Kampftruppe auf. Die Männer blockierten mit Lastwagen eine Straße und eröffneten das Feuer, als die kosovarische Polizei anrückte. Sie töteten einen Polizisten, verbarrikadierten sich in einem orthodoxen Kloster und lieferten sich eine stundenlange Schießerei mit den Einsatzkräften. Drei der serbischen Angreifer wurden dabei getötet, der Rest der Truppe floh nach Serbien. Die EU spricht von einem Terroranschlag. In Belgrad hingegen werden die Angreifer als Helden erinnert. Menschen zünden Kerzen in Kirchen an. Serbiens Präsident Vučić hat Staatstrauer angeordnet.

Der Westen ist orientierungslos 

Das ist eine verdrehte Logik. Nicht Serbien wurde am Sonntag Opfer eines Angriffs, sondern der Kosovo. Vučić, der die serbischen Medien kontrolliert, baut für seine Landsleute eine Parallelwelt auf. Diese Rhetorik sei eben „typisch Vučić“, beschwichtigen westliche Diplomaten seit Monaten in Hintergrundgesprächen. Er müsse das rechte Lager bei der Stange halten, jetzt, wo im Dezember Neuwahlen anstehen, umso mehr.

Diese Reaktion hat einen Namen: Appeasement. Sie zeigt, wie orientierungslos der Westen mittlerweile geworden ist. Dabei war er es, der den Kosovo 1999 als Folge der NATO-Intervention erschaffen hat.

Der Dialog um den Kosovo ist zu einem Tauschhandel verkommen. Es geht nicht mehr um Detailfragen, die eine Nachkriegsgesellschaft nachhaltig befrieden, also etwa um die Aufarbeitung der serbischen Kriegsverbrechen, oder auch um die Frage, wie das Leben der zu Recht verängstigten Kosovo-Serben im Norden besser werden kann. Die Wahrheit ist: Vučić schert sich nicht groß um Minderheitenrechte. „Er hat sich politisch und ideologisch nie von der Idee verabschiedet, das Territorium zurückzugewinnen“, glaubt der Politikwissenschaftler Vedran Džihić.

Klare Worte verhindern Gewalt 

Der Westen hat sich mit Vučić arrangiert, in der Hoffnung, dieser wende sich von Russland ab. Das Gegenteil ist der Fall. Am Montag traf Vučić den russischen Botschafter und klagte über „ethnische Säuberungen“ an Serben im Kosovo. Die internationale Gemeinschaft sei daran beteiligt.

Der Westen lässt das auf sich sitzen. Ein Ex-Soldat der Schutztruppe „Kfor“, mit dem ich diese Woche sprechen konnte, hält das für fatal.  „Manchmal“, sagt er, „können klare Worte eines NATO-Pressesprechers weitere Gewalt verhindern.“ Zu seiner Zeit habe man Desinformation in Pressekonferenzen sofort richtiggestellt. 

Nach Vučićs Treffen beim russischen Botschafter wurde gar nichts richtiggestellt. Der absurde Vorwurf, der Westen begehe „Säuberungen“ an Serben, steht unkommentiert im Raum. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass Putin eine ähnliche Lüge in die Welt setzte, um den Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. 

Bislang hat sich nur Deutschland klar und deutlich geäußert. Es sei irritierend zu sehen, wie der serbische Präsident aus Tätern Opfern mache, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Dieser Alleingang Berlins reicht nicht aus. Wie immer, wenn es um den Balkan geht, fehlt es an Einigkeit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass fünf Mitgliedstaaten (Griechenland, Rumänien, die Slowakei, Spanien, Zypern) den Kosovo gar nicht als unabhängigen Staat anerkennen. Solange sich das nicht ändert wird Serbien nicht im Traum daran denken, mit der Destabilisierung aufzuhören. 

Zur Verteidigung Brüssels: Mir ist bewusst, dass es für klare Worte zunächst eine unabhängige Untersuchung braucht. Das albanisch-kosovarische Lager macht sich keinen Gefallen damit, immer prompt bedingungslose Loyalität einzufordern.

Der Sonntag war eine Zäsur 

Aber der Sonntag war eine solche Zäsur, dass ein Kurswechsel notwendig ist.

Die Angreifer waren keine Zivilisten, die Amok liefen, sondern eine paramilitärische Einheit ohne Abzeichen, womöglich inspiriert von den „grünen Männchen“, die Russland 2014 als nicht deklarierte Einheiten auf die Krim schickte.

Sämtliche Experten, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass die Angreifer über Kontakte zu serbischen Sicherheitskräften verfügt haben müssen. Das belegt nicht zuletzt das von ihnen gehortete Waffenarsenal. Es handelt sich um keine verrosteten Kalaschnikows aus der Ära Jugoslawiens, sondern um hochmoderne Bestände aus staatlichen Depots: Mörser, Handgranaten, Maschinengewehre, Panzerabwehrwaffen, Dynamit. All das ist nicht so einfach am Schwarzmarkt zu finden. Es braucht Maulwürfe aus dem System, also aus den Geheimdiensten, der Polizei oder der Armee, die Bestände abzweigen, womöglich über eine längere Zeit hinweg. Genau das dürfte auch passiert sein. Einer der Angreifer, Milan Radoicic, war ein serbischer Lokalpolitiker aus dem Norden, der als Vučićs Vertrauensmann gilt. Ein weiterer wurde als ehemaliger Bodyguard des serbischen Geheimdienstchefs Aleksandar Vulin identifiziert. Vulin steht seit Sommer aufgrund seiner Nähe zu russischen Diensten auf einer US-Sanktionsliste. 

Alle fragen sich jetzt: Was wusste Vučić? Diese Frage ist politisch wichtig, weil es im Falle seines Mitwissens drastische Sanktionen braucht. Während viele mit felsenfester Überzeugung glauben, dass im Norden nichts ohne Vučić rennt, muss man doch zugeben: die Aktion schadet ihm mehr, als sie ihm nutzt. Gut möglich, dass der serbische Machthaber die Kontrolle über sein System verliert, wie das bei autokratischen Herrschern so oft der Fall ist. Das hat uns nicht zuletzt das Duell zwischen Putin und dem Söldner-Chef Prigoschin gelehrt. 

Aber wenn das befürchtete Horrorszenario eintritt und Paramilitärs im Nordkosovo Zellen aufbauen, dann ist es erst einmal unerheblich, wer sie geschickt hat. Am Ende zählt, dass Vučić ihnen mit seiner nationalistischen Rhetorik den Weg gezeigt hat. 

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.