Leitartikel

Drei Weisheiten von Zeilinger

Keine Angst, es geht dabei nicht um Quantenphysik.

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Wer hat seit der Verkündung der Nobelpreiszuerkennung an Anton Zeilinger nicht zumindest einmal versucht, sich die Verschränkung von Quantenzuständen vorzustellen? Oder Teilchen, die sich gleichzeitig nach rechts und nach links drehen, aber nur noch in eine Richtung, sobald man sie beobachtet? Sollte das bei Ihnen nicht so recht geklappt haben – willkommen im Klub!

Doch der Frust über die eigene Beschränktheit macht augenblicklich grenzenloser Neugier Platz, sobald der weißbärtige Nobelpreisträger mit den hellwachen Augen zu erzählen beginnt. Zeilinger verrät nämlich Weisheiten, die keinerlei Verständnis von Physik oder gar Quantenphysik voraussetzen, und die für unseren Blick auf die Wissenschaft – oder besser: auf die Welt – eminent bedeutsam sind. Hier sind drei davon:

1.


„Das ist für nichts gut“, antwortete Zeilinger vor Jahren in einem Interview mit der „Zeit“ auf die Frage, wofür seine Forschung gut sein solle. Der Satz ist insofern falsch, als die Quantenmechanik ungeheure technologische Neuerungen hervorgebracht hat und für die Zukunft noch unendlich mehr verspricht, doch er eröffnet einen Blick auf die Haltung des Wissenschafters, die am Anfang steht: Es treibt ihn die blanke Wissbegier, der Wunsch, ein Stückchen der Welt zu verstehen, dazu noch mathematische Schönheit. Alles, nur nicht eine auch noch so vage Vermutung, welche konkrete Anwendung sich daraus ergeben könnte. Und doch resultiert aus jeder neuen Erkenntnis ein technologischer Fortschritt.
Besser kann man den Sinn von Grundlagenforschung nicht erklären, und besser kann man dem Staat und seinen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern nicht klarmachen, weshalb ihr Geld gut angelegt ist, wenn es in die „Spinnereien“ (Zeilinger) von Wissenschaftern investiert wird.

2.


„Die Offenheit für Grundsatzfragen, die in Wien herrscht, geht sicher auch auf die Wiener Schule zurück.“ Das sagte Zeilinger im „ZIB-2“-Interview, und er erinnerte damit an Glanz und Elend der österreichischen Geschichte. Die Wiener Schule (oder der „Wiener Kreis“) war eine Gruppe von Philosophen, Mathematikern, Logikern und Naturwissenschaftern (mit Olga Hahn-Neurath war auch eine Frau dabei) rund um den Physiker und Philosophen Moritz Schlick, die sich in den 1920er- und 1930er-Jahren in Wien trafen. Jeden Donnerstag versammelten sich die Mitglieder im Mathematischen Institut in der Boltzmanngasse 5, debattierten und arbeiteten an ihrem Ziel, „den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende“ aus dem Weg zu räumen, um so zu einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ zu gelangen.


Welche Wirkung ein solcher Zirkel von Intellektuellen entfalten kann, erwies sich bald auf schreckliche und viel später auf wunderbare Weise. Der aufkommende Faschismus verachtete die Denkschule des Wiener Kreises als schädlich, weil antireligiös und antimetaphysisch, und bekämpfte sie als „jüdische Philosophie“. So gut wie alle Mitglieder mussten Österreich verlassen, Moritz Schlick wurde ermordet, und sein psychisch kranker Mörder nach zwei Jahren aus der Haft entlassen, weil er die Tat nachträglich als politisch motiviert rechtfertigte. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland verschwand der „Kreis“ endgültig.


Aber selbst die Vertreibung aller Intelligenz durch die Nazis konnte nicht verhindern, dass der Wiener Kreis bis heute nachwirkt. Seine eigentliche Denkschule, der „Logische Empirismus“ gilt längst als überholt, doch das radikale, Disziplinen übergreifende Hinterfragen und die mathematisch-logische Herangehensweise hallen nach. So sehr, dass Anton Zeilinger dessen atmosphärischen Effekt noch heute spürt. Seine Experimente stellen alle Auffassungen von Raum und Zeit infrage, doch dass vor fast einem Jahrhundert geniale, aufklärerische Köpfe ausgerechnet in Wien wirkten, hat Bestand. 

3.


„Wir sagen Dinge über die Welt aus, die stimmen einfach.“ Noch so ein Satz von Zeilinger aus einem früheren Interview, formuliert ohne Arroganz, bloß mit der Überzeugung des Wissenschafters, der Aussagen trifft, nachdem er sie beweisen konnte – und im Wissen, dass spätere Erkenntnisse sie wieder falsifizieren können.
Es gibt wohl keine faszinierenderen Skeptiker als Grundlagenforscher, die nachweisen wollen, dass über Jahrtausende für wahr gehaltene Sätze falsch sind. Der Begriff „Skepsis“ hat in den vergangenen Jahren eine erbärmliche Verdrehung erlitten. So genannte „Impfskeptiker“ missbrauchen ihn für etwas, das überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was er beschreibt: das Infragestellen und Auf-die-Probe-stellen nach wissenschaftlichen Kriterien – und das Akzeptieren des Ergebnisses dieser Prüfung. Stattdessen agitieren „Impfskeptiker“ in grober Missachtung der Regeln des Wissenschaftsbetriebs gegen das, was als wahr erkannt wurde.
Anton Zeilinger hat nachgewiesen, dass Annahmen aus der Alltagserfahrung in der Quantenphysik nicht wahr sind. So geht Skepsis, wenn man sie beherrscht.
Kühne, absichtslose Neugier, ein Bewusstsein für Geschichte, Skepsis in Perfektion – Zeilinger lehrt uns all das und noch mehr. Aber wie geht bloß diese Verschränkung nochmal?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur