Meinung

Eine Widerlegung von Bablers EU-Vorwürfen

Andreas Bablers alte und neue Vorwürfe gegenüber der EU, (großteils) widerlegt in sieben Punkten.

Drucken

Schriftgröße

Am Montag wurde bekannt, dass beim Auszählen der Stimmen am Parteitag die Namen vertauscht wurden. Nicht Hans Peter Doskozil hat die Wahl gewonnen, sondern Andreas Babler. Zur Nachvollziehbarkeit der Ereignisse bleiben die Artikel in der ursprünglichen Version auf profil.at.

Wenn Sie diesen Kommentar lesen, ist der SPÖ-Parteitag bereits gelaufen und – wenn nicht Unvorhergesehenes passiert – entweder Andreas Babler oder Hans Peter Doskozil neuer Parteivorsitzender. Es geht hier also nicht um die für Parteimitglieder akute Frage, welcher der beiden die bessere Wahl wäre, und schon gar nicht darum, diese zu beeinflussen. Nichts liegt mir als Nichtmitglied (aller Parteien) ferner. Doch eine Frage, die im Finale der Auseinandersetzung hochgekocht ist, ragt über den Tag und den Parteitag hinaus: Wie gut und wie nützlich ist die Europäische Union? Oder anders gefragt: Ist sie so sehr politisch irregeleitet und „nicht leiwand“, wie Andreas Babler sie charakterisierte?

Die Vorgeschichte: In einem vor drei Jahren veröffentlichten und vor wenigen Tagen neu aufgetauchten zweistündigen Video-Interview hat Babler die EU ein „neoliberalistisches, protektionistisches Konstrukt“, das „aggressivste, außenpolitisch-militärische Bündnis, das es je gegeben hat“, und ein „imperialistisches Projekt“ genannt. Bald darauf hat er in einem 13-teiligen Twitter-Posting seine „Formulierung“ als „überzogen“ bezeichnet und eine neuerliche, inhaltlich anders gelagerte Kritik hinzugefügt.

Was aber soll das bedeuten, die Formulierung sei „überzogen“? Zieht Babler sie zurück oder nicht? Besser also, jeden Punkt, den Babler vorbringt, einzeln zu behandeln.

1. Das „aggressivste, außenpolitisch-militärische Bündnis, das es je gab“ hat noch nie einen Krieg geführt. Auch die „EU-Battlegroups“, schnelle militärische Eingreiftruppen, waren außerhalb von Übungen noch nie im Einsatz. Es gibt zweifelsfrei aggressivere Bündnisse.

2. Imperialismus bedeutet, andere Länder meist mittels Gewalt in den eigenen Machtbereich einzugliedern. Die EU stellt es Staaten frei, sich als Beitrittskandidaten zu bewerben, und sie ermöglicht es Mitgliedern auch, das Bündnis wieder zu verlassen (siehe Brexit). Ein ziemlich zuvorkommender Imperialismus also. Übt die EU innerhalb der Gemeinschaft Druck aus? Ja, zum Beispiel derzeit auf Ungarn und Polen, allerdings nur auf Basis der gemeinsam vertraglich vereinbarten Werte und Grundsätze.

3. Der EU Protektionismus vorzuwerfen, ist kurios. Tatsächlich gehört es seit jeher zu den unverhandelbaren Kriterien, dass ein Staat, der Mitglied der EU werden möchte, jegliche Handelsbarrieren gegenüber den anderen Mitgliedern abbaut. Nach innen agiert die EU also als antiprotektionistische Institution schlechthin. Nach außen jedoch bestehen sehr wohl Barrieren und Zölle. Wann immer diese im Zuge von Verhandlungen über Freihandelsabkommen (TTIP, CETA, Mercosur) abgebaut werden sollen, regt sich erbitterter Widerstand – vor allem von linken Parteien und Bewegungen, denen Babler nahesteht.

4. Babler kritisiert Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der Asylpolitik in Europa. Mit dieser Kritik ist er nicht allein, sondern in bester Gesellschaft der EU selbst. Die Europäische Kommission hat zum Beispiel Ungarn genau deshalb vor dem Europäischen Gerichtshof mehrmals wegen seiner Asylpolitik verklagt. Die jüngst (auch in profil) dokumentierten Pushbacks in Griechenland wurden mutmaßlich von Mitgliedern der dortigen Behörden verübt. Darüber Aufklärung gefordert hat: EU-Kommissarin Ylva Johansson.

5. Die „neoliberalen Sparprogramme der letzten Jahrzehnte haben viel Schaden angerichtet und die südeuropäischen Länder in eine tiefe Rezession gezwungen“, schreibt Babler. Wahr ist jedoch: Staaten wie Portugal oder Spanien, die zum Zeitpunkt ihres Beitritts 1986 weit unter dem EU-Schnitt des Pro-Kopf-Bruttosozialprodukts lagen, haben in den Jahrzehnten danach enorm aufgeholt. Nicht zuletzt, weil sie als Nettoempfänger von der Umverteilung innerhalb der EU profitierten.

6. In Griechenland sei wegen der EU-Austeritätspolitik „die Lebenserwartung zurückgegangen und die Selbstmordrate um 57 Prozent gestiegen“. Hier greift Babler eine Momentaufnahme aus der Zeit der griechischen Staatsschuldenkrise (2010) heraus. Die Lebenserwartung in Griechenland liegt heute für Frauen bei 84 Jahren (Österreich: 84,2) und für Männer bei 79 (Österreich: 79,5). Die Suizidrate betrug in Griechenland im Jahr 2020 4,26 Fälle pro 100.000 Einwohner, in Österreich mit 12,55 mehr als das Doppelte.

7. Babler verlangt, dass die EU zu einer Sozialunion weiterentwickelt wird. Damit ist er nicht allein. Soziale Absicherung zu organisieren und zu finanzieren, ist bisher Aufgabe der Mitgliedstaaten. Was nicht heißt, dass die EU nicht dennoch für enorme soziale Fortschritte bei Arbeitsrecht, Antidiskriminierung und vielen anderen Bereichen gesorgt hat. Eine echte Sozialunion würde eine Harmonisierung der Sozialleistungen bedeuten, zum Beispiel bei Pensionen. Logischerweise müsste dann das Pensionsantrittsalter EU-weit vereinheitlicht werden – mutmaßlich auf 65 Jahre. Als Frankreichs Regierung zuletzt die Anhebung von 62 auf 64 Jahre beschloss, verlangte die äußerst rechte und die linke Opposition den Sturz der Regierung. Unter ihnen: Bablers Parteifreunde.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur