Leitartikel

Die ÖVP und ihre Glaubwürdigkeit

Schein und Sein klaffen auseinander: Vor der FPÖ warnen – mit der FPÖ koalieren. Mehr Kindergärten versprechen – Herdprämien vereinbaren. Das zerstört auch den Ruf als Wirtschaftspartei.

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In Österreich konnte mit der neuen Währung Euro bezahlt werden, die FPÖ rebellierte in Knittelfeld gegen Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer und sprengte die Koalition, Robbie Williams dominierte mit „Feel“ die Hitparaden, Stephan Eberharter gewann die Riesentorlauf-Goldmedaille in Salt Lake City, US-Präsident George W. Bush begann den „Krieg gegen den Terror“, Technikfreaks erwarben fasziniert ihren ersten „Blackberry“, Claudia Plakolm saß in der dritten Klasse Volksschule.

Manche Nachrichten aus dem Jahr 2002 klingen heute verflixt lange her. Trotzdem sind manch gute Vorsätze von seinerzeit unerfüllt. Damals, im fernen Jahr 2002, verordnete sich Österreich das sogenannte EU-Barcelona-Ziel: genügend und hochwertige Kinderbetreuungsplätze für ein Drittel der unter Dreijährigen. Satte 21 Jahre später verfehlt Österreich diese Vorgabe peinlicherweise immer noch deutlich, hinkt international hinterher – und bietet stattdessen in Salzburg mit der neuen ÖVP-FPÖ-Regierung „Herdprämien“, wenn Kinder nicht in den Kindergarten gehen.

Klingt paradox und retro? Ist es auch.

Passt aber zum derzeitigen Motto der ÖVP, zwischen Schein und Sein erhebliche Lücken klaffen zu lassen – und recht dreist das eine zu sagen, das völlig andere aber zu tun. Beispiele gefällig? In dramatischen Worten geißeln einerseits ÖVP-Granden die Radikalität der FPÖ, brandmarken sie als Russland-Versteher und „Korruptionspartei“ (© ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker) – was aber andererseits ÖVP-Landeshauptleute mitnichten daran hindert, sich die FPÖ als Regierungspartner schönzureden. Schwarz-Blau liegt im Trend, die FPÖ lockt als zarteste Versuchung, seit es Koalitionspartner gibt. Oder: Im Wahlkampf versprach Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer Gratiskindergarten, Niederösterreichs Johanna Mikl-Leitner massiven Ausbau der Kinderbetreuung. Einige Wochen und einen Koalitionspakt mit den Freiheitlichen später wird flugs die „Herdprämie“ in Salzburg fixiert und deren Einführung in Niederösterreich geprüft. Auch eine Methode, frei nach dem Motto „Was geht mich mein Geschwätz von gestern an?“ die Glaubwürdigkeit zu untergraben.

Und ein Weg, den traditionellen Ruf der ÖVP als Wirtschaftspartei zu konterkarieren.

Denn die Mangelware Kindergartenplätze ist längst nicht mehr nur ein Problem von Eltern, sondern eine veritable Hürde und Überlebensfrage für die Wirtschaft. Seit Monaten suchen Unternehmen, quer durchs Land und Branchen, händeringend nach Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das hemmt mittlerweile die Wirtschaftsentwicklung: Aufträge stocken oder können nicht erfüllt werden, Gasthäuser müssen „Heute geschlossen“-Schilder an die Tür hängen, die Klagen von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung über den enormen Fachkräftemangel ertönen immer lauter und zusehends dringlicher. Manche ökonomischen Herausforderungen sind knifflig und erfordern komplexe Antworten – für das Problem Arbeitskräftemangel, da sind sich alle Experten einig, gibt es im Wesentlichen nur zwei Lösungen: mehr und gezielte Zuwanderung. Und die Mobilisierung heimischer Arbeitskräfte.

Letzteres wäre vergleichsweise einfach, das Potenzial enorm hoch: Jede zweite Frau in Österreich arbeitet Teilzeit, beileibe nicht jede davon freiwillig. Zum Vergleich: Österreich liegt damit exorbitant über dem EU-Durchschnitt. Nicht ohne Grund trommeln ÖVP-Größen wie Wirtschaftsminister Martin Kocher, assistiert von Wirtschaftskammer und Arbeitsmarktservice, seit Monaten: Mehr und bessere Kinderbetreuung, rasch und diesmal aber wirklich! Vor wenigen Monaten fand sich sogar die seltene Allianz aus Industriellenvereinigung, Wirtschaftskammer, Gewerkschaft und Arbeiterkammer, die selten einer Meinung sind, und forderte einhellig: Recht auf einen Kindergartenplatz für alle, die das wollen. Daraufhin passierte – wenig. Nur die ÖVP packte ihren Uralt-Slogan von der „Wahlfreiheit“ aus.

Klar: Alle Eltern, die gerne ihre Arbeitszeit für den Nachwuchs reduzieren oder Kinderpause machen wollen, sollen das natürlich tun. Nur: Wer „Wahlfreiheit“ ernst meint, muss Angebote bereitstellen. Davon ist Österreich meilenweit entfernt. Nur zwei Zahlen: 51 Tage im Jahr, weit mehr als jeder Urlaubsanspruch erlaubt, sind über ein Zehntel der Kindergärten geschlossen. Und: Salzburg bietet für kümmerliche 24 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungsplätze, deutlich vom Barcelona-Ziel von 33 Prozent entfernt. Angesichts derartig frappierender Nichtmöglichkeiten von „Wahlfreiheit“ zu sprechen, klingt für viele Eltern schlicht wie blanker Hohn.

Die FPÖ wettert gegen Zuwanderung, die FPÖ drängt auf Bonuszahlungen für Eltern, die zu Hause betreuen – und setzt das in ihren Landesregierungen in Oberösterreich und Salzburg und bald wohl auch in Niederösterreich durch, egal wie laut ÖVP-Wirtschaftsvertreter protestieren. So viel zum Anspruch von Wahlversprechen und der Wirklichkeit.

Salzburgs Haslauer warnte vor der Wahl eindringlich vor FPÖ-„Grenzüberschreitungen“ und der Tonalität von Herbert Kickl, die ihn an die 1920er-Jahre erinnere. Nach der Wahl zeigte er sich genauso prinzipienelastisch wie Niederösterreichs Mikl-Leitner, der Machterhalt wog schwerer. Nun legen sich ÖVP-Spitzenpolitiker wie Außenminister Alexander Schallenberg fest: Nie unter einem Kanzler Herbert Kickl dienen.

Nur: Wer soll derartige Versprechen noch glauben, wenn Schein und Sein derart weit auseinanderklaffen?

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin