Meinung

Franziska Tschinderle: Macrons Balkanpolitik ist unverantwortlich

Im kleinen Nordmazedonien verspielt die EU im großen Stil ihre Glaubwürdigkeit.

Drucken

Schriftgröße

Seitdem ich auf dem Balkan lebe, fällt es mir schwer, eine glühende Europäerin zu sein. Den Menschen um mich herum geht es gleich. Sie sind frustriert. Ja, Entscheidungsfindungen in der Union sind schwierig. Aber so kompliziert? So ungeschickt? 

Viele fragen sich: Wenn die EU ihre Interessen nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft verteidigen kann, wie dann sonst wo auf der Welt?  

Die sechs Westbalkanstaaten Kosovo, Montenegro, Bosnien Herzegowina, Serbien, Nordmazedonien und Albanien liegen geografisch gesprochen mitten in Europa. Trotzdem harren sie im Warteraum der Union aus –  und das seit über 20 Jahren. Derzeit spielen sich in diesen Ländern Szenen ab, die Stoff für eine Sitcom liefern. Da sind Mitgliedsstaaten (Bulgarien), die ihrem Nachbarn (Nordmazedonien) indirekt das Existenzrecht absprechen und EU-Anwärter (Serbien), die signierte Tennisbälle verschicken, damit Staaten ihre ehemalige Provinz (Kosovo) nicht anerkennen. Da sind EU-Politiker (Emmanuel Macron), die jahrelang den Prozess aufhalten und dann einen Vorschlag auf den Tisch legen, der unmöglich umgesetzt werden kann. Und da ist eine EU-Kommissionspräsidentin (Ursula von der Leyen) die all das schönreden muss. Heute Donnerstag war sie zu Besuch in Skopje, der Hauptstadt Nordmazedoniens, ein zutiefst polarisiertes Land, das wegen der EU in eine schwere Krise geschlittert ist. "Europa wartet auf euch!", so Von der Leyen am Rednerpult im Parlament. Die Realität sieht anders aus. 

Wäre der Balkan ein Pausenhof, dann wäre Nordmazedonien das Kind, das die ganze Zeit gehänselt wird. Auf Druck Griechenlands hat es seinen Namen geändert, jetzt blockiert Bulgarien, der andere Nachbar, die EU-Annäherung. Nordmazedonien soll die 3504 Bulgaren im Land als Minderheit in der Verfassung verankern. Zum Vergleich: In Österreich leben rund 200.000 Deutsche, ein Vielfaches also. Man stelle sich vor, Berlin hätte 1994 den Beitritt Österreichs blockiert, solange Deutsche nicht als Volksgruppe in die Verfassung aufgenommen werden. Das bulgarische Narrativ geht noch weiter: Die Mazedonier seien in Wahrheit früher einmal Bulgaren gewesen, ihre Sprache nur ein Dialekt.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will im Konflikt vermitteln, aber allzu glaubwürdig ist das nicht, denn Paris hat auf dem Balkan den Ruf des ewigen Bremsblocks. Frankreich verweigert den Kosovaren die lang ersehnte Visa-Liberalisierung, obwohl die EU-Kommission seit 2018 mehrfach bestätigt hat, dass alle Kriterien erfüllt sind. Damit hat man den Ruf der EU ausgerechnet im jüngsten und pro-westlichsten Balkanstaat verspielt. Hier ist es noch nicht zu Ende. Nachdem Nordmazedonien mit Ach und Krach seinen Namen geändert hatte, trödelte Macron mit einer Reform des Beitrittsprozesses herum und blockierte das Weiterkommen Albaniens. Mittlerweile ist der Geist aus der Flasche. Bulgarien blockiert Skopje und damit kommt auch Tirana nicht voran. Die EU hat beide Anwärter in ein gemeinsames Paket gesteckt. Um voneinander „entkoppelt“ zu werden, müsste Tirana einen Antrag stellen. 

Kommen Sie noch mit? Nein? Genau das ist das Problem. 

Die EU hat es verabsäumt, eine glaubwürdige und verständliche Geschichte zu erzählen. Sie hat den Balkan bis ins Unermessliche bürokratisiert, so dass sich heute niemand mehr auskennt, worum es eigentlich geht. 

Es ist eine geopolitische Notwendigkeit, den Balkan an die EU heranzuführen, nicht zuletzt, weil unser systemischer Rivale Russland versucht, dort an Einfluss zu gewinnen. Durch Desinformationskampagnen oder durch von Geheimdiensten orchestrierte Putschversuche. Am Ende geht es aber um unsere eigene Glaubwürdigkeit. Wir haben den Balkanländern keine Sonderwirtschaftszone versprochen, sondern eine Vollmitgliedschaft. Nach den Jugoslawienkriegen ging es darum, den Frieden auf dem Kontinent langfristig zu sichern. Gerade jetzt, wo Krieg in der Ukraine tobt, sollten wir uns daran erinnern.

Auf den letzten Metern der Ratspräsidentschaft hat Macron einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, eng abgestimmt mit Berlin: Skopje soll wegen des Bulgaren-Vetos seine Verfassung ändern. Das Problem: Der Regierung fehlt die dafür nötige Zwei-Drittel-Mehrheit. Im Volk gibt es schlichtweg keine Mehrheit für dieses Vorhaben. Um Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit oder die Entpolitisierung der Justiz geht es in Nordmazedonien längst nicht mehr. Anstatt einer Demokratisierung setzt ein Kuhhandel ein. Um einzelne Abgeordnete von der Verfassungsänderung zu überzeugen, werden ausländische Delegationen in Hinterzimmern verschwinden und womöglich Deals aushandeln. Es wäre nicht das erste Mal. Macrons Kompromiss ist in Wahrheit eine Sackgasse. Die rechtskonservative Opposition trommelt zu Protesten. In Umfragen liegt sie bereits vorne. Die EU stürzt mit ihrer Politik die pro-europäischen Kräfte im Land. Die westlichen Botschaften machen gute Miene zum bösen Spiel. Hinter dem Rücken rollen Diplomaten mit den Augen, nennen Macrons Vorschlag „Knebelpolitik“ und „eine Zumutung.“ Genau das hätte Von der Leyen dem französischen Präsidenten auch sagen sollen. Jetzt ist es zu spät dafür.        

Franziska Tschinderle

Franziska Tschinderle

schreibt seit 2021 im Außenpolitik-Ressort. Studium Zeitgeschichte und Journalismus in Wien. Schwerpunkt Südosteuropa / Balkan.