Meinung

Gedichte lesen

Ich finde Lyrik spannender als Aktienkurse. Dafür möchte ich mich nicht schämen müssen.

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Gerade hab ich ein paar Gedichte von Mascha Kaléko gelesen. Das mache ich hin und wieder: Gedichte lesen. Kaléko, Kästner. Aber auch Eichendorff. Kennt den noch jemand? In Quizsendungen (die ich manchmal beim Aufräumen der Küche laufen lasse) legen die Teilnehmer:innen meist großen Wert darauf, bei Literaturfragen prustend zu versagen. Literatur? Nein, aber wirklich nicht! Da sind wir blank.

Vor ein paar Jahren schrieb ich, dass ich vor Wahlen die Kandidaten und Kandidatinnen gerne fragen würde, welche Gedichte sie kennen und ob sie eins davon auswendig wüssten. Mir schien das damals eine Möglichkeit, in die Seele, Mindset würde man wahrscheinlich zeitgemäß sagen, von Menschen zu schauen. Nur ein kleines bisschen, aber doch. Wenig später ist das Fernsehen, ich weiß nimmer, welcher Sender, beim gerade anstehenden Wahlkampf um die Bundespräsidentschaft auf dieselbe Idee gekommen, und die Kandidat:innen wurden nach Gedichten gefragt. Das war vielleicht ein Reinfall. Die Befragten retteten sich mit mehr oder weniger peinlichen Scherzreimen aus der Situation, offensichtlich angewidert von dieser Zumutung, und die Zeitungen waren sich einig: idiotischer Einfall, überflüssiger Jux.

Ich schließe mich diesem abfälligen Urteil nach wie vor nicht an. Und wenn Menschen, die mich und meine Interessen bei der Gestaltung unseres Staates und unserer Gesellschaft vertreten wollen, schon keine Beziehung zur Lyrik haben, dann wüsste ich doch gern, wie sie es mit anderen kulturellen Angeboten halten. Gehen sie in Ausstellungen? In Konzerte? Lesen sie Romane? Musizieren sie selber? Treffen sie sich mit Freunden oder Freundinnen, einfach so, ohne karrieretechnische Hintergedanken, und gehen mit ihnen ins Kino? Ui, was für naive Fragen! Was stelle ich mir vor? Politiker:innen stecken doch in einem straffen Zeitkorsett! Personen des öffentlichen Lebens haben doch Wichtigeres zu tun, als sich in Museen herumzutreiben!

Na ja, kommt drauf an, wie man Wichtiges definiert. Ich kann mich erinnern, dass ich die seinerzeitige Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek immer wieder auch in kleinen Kellertheatern getroffen habe, zufällig, ganz ohne PR-Getöse. Da hat sich seither was geändert, aber was?

Die heutigen Wunderkinder heißen Bezos, Musk, Kurz, Benko. Was für ein Niedergang der Wunderkinder!

Also. Ich lese Romane und habe kein Geld in Aktien angelegt. Die Lektüre von Börsenkursen verursacht mir Anfälle von Narkolepsie. Ich bin Freiberuflerin und verstehe von Betriebswirtschaft gerade so viel, dass mich das Finanzamt nicht mit nassen Fetzen um die Häuser jagt. Darauf muss man nicht stolz sein. Bin ich auch nicht. Die Frage ist nur, in welchem Ausmaß man sich dafür genieren muss.

Mein Spargroschen wird von Tag zu Tag weniger wert, aber wann immer mich mein Bankberater zum Zeichnen einer Anleihe überredet hat, hatte ich hinterher noch weniger auf der hohen Kante als vorher. („Wenn Bankberater wüssten, wie man reich wird, wären sie keine Bankberater, sondern säßen als Privatiers auf ihren Luxusyachten“, pflegte ein alter Freund zu sagen, und ich finde, da ist was Wahres dran.) Das geschieht mir vollkommen recht, richten mir maßgebliche Menschen via Zeitungen und Fernsehen immer wieder aus. Selber schuld, wer sich ökonomisch nicht bildet und auf dem Laufenden hält, und sie plädieren für finanztechnische Schulungen schon in der Grundschule, während ich den kleinen Kindern mehr über die schönen Künste erzählen wollte.

Nun bin ich durchaus voll Respekt für alle Leute, die Bilanzen lesen oder geläufig über das Bruttonationaleinkommen der Nordseeländer referieren können, und ich verkenne nicht, welche Bedeutung der Wirtschaft insgesamt zukommt. Aber was heißt das, auf den einzelnen Menschen und seinen Alltag bezogen?

Heißt es, ständig Eigentum vermehren, mit Aktien spekulieren, den eigenen Vorteil im Auge haben zu sollen und unentwegt den Puls des wirtschaftlichen Geschehens zu umklammern?

Meine Vorstellung von einem guten Leben ist das nicht. Ich möchte nicht dauernd rechnen und kalkulieren müssen, auf Deals fixiert, Geldscheine in den Pupillen wie Dagobert Duck. Meine Vorstellung von einem guten Leben heißt Zeit für Kunst, Kultur, Geselligkeit, für die Familie, für Freundschaften, Müßiggang, Nachdenken, Lesen, Musik. Ich wollte nie nichts arbeiten müssen, aber ich wollte und will keine Arbeit, die nur im Anmichraffen von Eigentum besteht. Ich möchte ausreichend bezahlt werden, aber „ausreichend“ bedeutet in meinen Augen, dass es gerade für einen bescheidenen Überfluss reicht.

Ich frage mich, wann lesen sie jemals einen Roman, spielen sie Klavier, schauen sie beglückt in die Landschaft, die vom wirtschaftlichen Erfolg Getriebenen? Und warum soll ich sie dafür bewundern, dass sie es vermutlich nicht tun? Mozart war ein Wunderkind. Die heutigen Wunderkinder heißen Bezos, Musk, Kurz, Benko. Was für ein Niedergang der Wunderkinder!

Die Jungen haben es schon begriffen, Stichwort Work-Life-Balance, und werden dafür faul geschimpft. Um was mir ihre angebliche Faulheit lieber ist als der Fleiß der neuen Wunderkinder, die am Ende uns allen das Geld aus der Tasche reißen, wenn sie schon wieder in Konkurs gehen!