Leitartikel

Gernot Bauer: Faktenangst

Warum trifft Corona häufiger Migranten? Wenn schon die Fragestellung als rassistisch gilt, sind Antworten unmöglich.

Drucken

Schriftgröße

Vor zwei Wochen behauptete Sebastian Kurz, „Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht haben“, hätten „uns Ansteckungen wieder ins Land hereingeschleppt“. Der Bundeskanzler präsentierte nur einen Teil der Wirklichkeit (und seine Wortwahl ist fragwürdig). profil bemühte sich in seiner vorwöchigen Ausgabe in einem Faktencheck um die ganze Wahrheit. Das Ergebnis auf Basis von Informationen und Aussagen der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) lautete wie folgt: „Rückkehrende Migranten vom Westbalkan (wie auch österreichische Touristen) haben das Infektionsgeschehen im Sommer tatsächlich signifikant mitbestimmt.“

Der Satz stammt von mir. Aus Sicht der NGO „Plattform für eine menschliche Asylpolitik“, der Abgeordnete von SPÖ und Grünen sowie Vertreter der SPÖ-nahen Volkshilfe angehören, ist dieser Satz „rassistisch“ (wahrscheinlich gemeint: „ausländerfeindlich“) und „gemeingefährlich“.

Ein ähnlicher, wenn auch milderer Vorwurf kursierte Tage später in den sozialen Netzwerken. Der Anlass: profil-Redakteur Clemens Neuhold hatte darauf verwiesen, dass verhältnismäßig wenige Migranten zu den Corona-Massentests gingen. Die Information bezog sich auf einen ORF-Beitrag und stammte ursprünglich von einem Vertreter des Roten Kreuzes. Dennoch wurde allein die Thematisierung dieser Tatsache durch einen profil-Redakteur als bewusste Verstärkung eines migrantenfeindlichen ÖVP-Spins gewertet.

Man fragt sich: Wie kann das Benennen von Fakten rassistisch sein? Wo bleiben Vernunft und intellektuelle Redlichkeit? Und findet keine Antwort.

Artikel über Corona-Infektionen bei Bauernhochzeiten, Almabtrieben, Gottesdiensten und Kaufhauseröffnungen erschienen sonder Zahl. Die Auseinandersetzung mit Migranten und anderen Minderheiten  ist heikler. Tatsachen sind: Die Corona-Cluster in Freikirchen betrafen vor allem Roma und Sinti. Große Hochzeiten in jüdisch-orthodoxen Familien in Wien hatten auch eine große Zahl von Infizierten zur Folge. Türkische Familienfeste waren trotz Verbot keine Einzelfälle. Und Rückreisende vom Westbalkan, die dort bei Verwandten, Freunden oder am Familiengrab waren, steckten zu Hause in Österreich Freunde und Arbeitskollegen an.

Politiker scheuen das Thema. Reuters berichtete im Oktober von einem Treffen „in aller Stille“ von Kanzlerin Angela Merkel mit Vertretern der Migranten-Verbände, um die überdurchschnittlichen Infektionszahlen in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil zu besprechen. Der Intensivmediziner Burkhard Gustorff vom Wiener Wilhelminenspital gab in einem „Presse“-Interview an, unter seinen Patienten würde sich ein „verhältnismäßig hoher Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund“ (aus Balkanstaaten, Südpolen, der Türkei) befinden, konkret 60 Prozent. Ein dramatischer Wert angesichts eines Migrantenanteils dieser Gruppen in Wien von etwa 20 Prozent. Eine Untersuchung der OECD zeigt, dass Migranten ein doppelt so hohes Infektionsrisiko haben wie gebürtige Staatsbürger.

Die Hauptgründe dafür sind ebenso plausibel wie die Zahlen. Migranten vom Balkan und aus der Türkei wohnen öfter auf engem Raum und arbeiten teils prekär bei Lieferdiensten, Reinigungsunternehmen, in Schlachthöfen oder im Pflegebereich – nicht sicher im Homeoffice. NGO-Vertreter, Politiker und Migrationsforscher tendieren dazu, die hohen Infektionszahlen nahezu ausschließlich mit diesen sozioökonomischen Verhältnissen zu begründen. Dieselben NGO-Vertreter, Politiker und Migrationsforscher gestehen auch ein, dass ein Teil der Migranten über Corona-Einschränkungen oder Massentests nicht Bescheid weiß, machen dafür aber die fehlerhafte Kommunikation durch die Politik oder Behördenversagen verantwortlich. Auch das ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Zur ganzen Wahrheit gehört, dass Integrationsbemühungen bei Migranten auch scheitern oder Deutschkenntnisse fehlen.

Und manchmal haben Infektionshäufungen einfache kulturelle Gründe: In Freikirchen wird mehr gesungen und enger gefeiert, Türken veranstalten Riesenhochzeiten, junge Serben noch wildere Partys als junge Österreicher. In einer pluralistischen Gesellschaft werden andere Verhaltensweisen und Erscheinungsformen im Sozialleben breit akzeptiert. Man sollte kulturelle Eigenheiten von Migranten auch nicht wie die ÖVP ständig überbetonen. Wenn diese in Krisensituationen wie jetzt kritisch thematisiert werden, ist das aber nicht „rassistisch“, sondern dient allen.

Rassismus ist zu benennen, wo er passiert. Rigorismus wider jede Vernunft ist intellektuell unredlich und kontraproduktiv. Werden Probleme geleugnet, wird auch nicht über deren Ursachen diskutiert – und schon gar nicht über Lösungen. Widerstand gegen Fakten bringt uns nicht weiter.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.