Leitartikel

Kanzler Kickl?

Zum Jahresende liegt die FPÖ in den Umfragen an erster Stelle. Warum ihrem Chef der Sprung an die Regierungsspitze dennoch nicht gelingen wird.

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Eine Konstante der österreichischen Politik lautet offenbar: Egal was passiert, am Ende ist die FPÖ in den Umfragen wieder vorn. So auch jetzt: Laut profil-Umfrage des Instituts Unique Research von Demoskop Peter Hajek liegt die FPÖ derzeit bei 26 Prozent und damit gleichauf mit der SPÖ. Die ÖVP ist mit 20 Prozent und einigem Abstand nur noch Dritter. Die Impfgegner-Partei MFG kommt immer noch auf vier Prozent. Im nächsten Jahr wird sie sich auflösen – und ein Teil ihrer Sympathisanten vorhersehbar zur FPÖ wandern. In einer Umfrage für den „Standard“ führt das market-Institut die FPÖ schon auf Platz eins. 

Zusammengefasst: Die FPÖ wächst dynamisch, die SPÖ bleibt statisch und die ÖVP hofft apathisch, ihren Abwärtstrend bald einbremsen zu können. 

Die FPÖ genießt politische Narrenfreiheit. Die Bürgerinnen und Bürger verzeihen ihr alles: das Ibiza-Video, die Eskapaden von Heinz-Christian Strache, Korruptionsvorwürfe, Spesenexzesse, interne Streitereien, die Demontage des Parteichefs Norbert Hofer, rechtsextreme Ausritte. Entgegen der landläufigen Annahme wollen viele Österreicher und Österreicherinnen nicht ihre Ruhe, sondern Krawall. Der Aufstieg der FPÖ auf den ersten Platz ist umso bemerkenswerter, als ihr Chef Herbert Kickl laut Umfragen zu den unbeliebtesten Politikern zählt. Auch unter den freiheitlichen Sympathisanten reicht er nicht an Hofer, Heinz-Christian Strache oder gar Jörg Haider heran.

Wird Österreich also nach etwaigen Neuwahlen 2023 (falls die Achse Nehammer-Kogler bricht) oder regulär ab 2024 von einem Bundeskanzler Herbert Kickl regiert? Nein. Kickl würde keinen Koalitionspartner finden. Und selbst wenn, stünde der Mann in der Hofburg seinem Aufstieg entgegen. Es ist auszuschließen, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen einen Mann zum Kanzler ernennt, den er 2019 als Innenminister entließ. 

Die FPÖ genießt politische Narrenfreiheit. Wer es sich so einfach macht, hat es tatsächlich einfach.

Auszuschließen ist aber auch, dass die Wahlsiegerin FPÖ im Falle einer blau-schwarzen Koalition abermals der ÖVP das Kanzleramt überlässt, wie es Jörg Haider im Jahr 2000 tat, und in der Folge von Wolfgang Schüssel ausmanövriert wurde. Kickl hat seine Lektion gelernt. Denkbar wäre es, dass ein anderer Freiheitlicher mit schwarzer oder auch roter Unterstützung Kanzler wird, etwa Hofer oder der oberösterreichische Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner. Ein weiteres Szenario: Kickl wird gar nicht FPÖ-Spitzenkandidat, sondern tritt zugunsten von Hofer zur Seite oder wird bis dahin weggeputscht. Auch das würden die Wähler den Freiheitlichen früher oder später verzeihen.
Für dieses Phänomen gibt es drei Gründe: die FPÖ, die Bürger und die anderen Parteien. 

Die Freiheitlichen wissen im Gegensatz zu ÖVP und SPÖ genau, wofür sie stehen – und was sie ablehnen: Corona-Maßnahmen, EU, Inflation, hohe Energiepreise, Russland-Sanktionen, Asyl, Zuwanderung, Integration. Sie betreiben Negation bis zum Nihilismus. Wer es sich so einfach macht, hat es tatsächlich einfach.

Die Bürgerinnen und Bürger kennen sich bei der FPÖ aus. Sie wissen genau, was sie kriegen. Im Krisenjahr 2022 nahm der Pessimismus zu. Aus zahlreichen belegten Untersuchungen wissen wir: Wer mit Sorge in die Zukunft blickt, tendiert verstärkt dazu, rechts- oder linkspopulistische Parteien zu wählen. Was die Regierung in der Vergangenheit leistete, wird ignoriert.
Insofern ist der herrschende Frust bei ÖVP und Grünen nachvollziehbar. Keine andere EU-Regierung steckte so viel Geld in die Abhilfe für Teuerung und Corona-Schäden wie die österreichische. Gedankt wird es ihr nicht. Wer Staatsgläubigkeit – wie auch die ÖVP – sät, wird Unzufriedenheit ernten, wenn der Staat an seine Grenzen stößt.

Dass die Österreicher ihr Vertrauen in die Politik verlieren, liegt auch an der SPÖ, die es sich fast schon so einfach macht wie die Freiheitlichen. Der pauschale rote Vorwurf, die Regierung sei schuld an Teuerung, ist beschämend unterkomplex und hilft letztlich der FPÖ. Aus der politischen Fortune, Sebastian Kurz losgeworden zu sein, machen die Sozialdemokraten und ihre Vorsitzende zu wenig. Für den ersten Platz und eine Ampelmehrheit müssten sie rechts der Mitte punkten. Doch Linkspopulismus wird nicht ausreichen, um der FPÖ Wähler abzujagen, wechselbereite ÖVP-Wähler aber verschrecken. 

Auch im Parteienwettbewerb gilt: Politik ist die Kunst des Möglichen. Die ÖVP wird ihren Korruptionsmakel nicht so schnell loswerden und die SPÖ keine bessere Kandidatin finden. Was für ÖVP und SPÖ in dieser Situation zumindest möglich wäre: die tiefe gegenseitige Abneigung langsam zu überwinden und sich mittelfristig auf die derzeit einzig denkbare Variante ohne Regierungsbeteiligung der FPÖ vorzubereiten: eine Große Koalition, eine weitere, fast der Vergessenheit anheimgefallene Konstante der österreichischen Politik.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.