Leitartikel

Guten Morgen, Österreich!

Hierzulande sitzen wir Probleme gerne aus. Dieses Mal geht das nicht, der Nahostkonflikt offenbart fundamentale Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft, die wir zu lange nicht sehen wollten.

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Die Neutralität ist in Österreich eine beliebte Ausrede. Wir sind nicht so temperamentvoll wie die Griechen oder Franzosen, die ihre Meinung lautstark auf die Straße tragen. Wir mögen keine Konflikte – und Kriege, die sind weit weg. „Was geht es uns an? Die sollen das selbst regeln. Das ist ein Streit unter Nachbarn – und überhaupt, wir mischen uns nicht ein. Wir sind neutral.“ Das hörte man, als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte. Und das hört man heute, nachdem die Hamas mit ihrem schrecklichen Terrorüberfall auf Israel am 7. Oktober 2023 einen alten Konflikt eskalieren ließ, der nun mit Bomben, Panzern und Leid für die Zivilbevölkerung ausgetragen wird.

Israel, Gaza, ja das ist weit weg. Aber dass es uns etwas angeht, zeigen brennende, jüdische Friedhöfe. Mit Davidsternen und Hakenkreuzen beschmierte Hauser. Das zeigt grassierender Judenhass in der Linken wie der Rechten. Es zeigen lautstarke Demonstrationen gegen Israel, die von arabischen Zuwanderern getragen werden. Das offenbart sich aber auch an den vielen Rassisten, die glauben, endlich eine Legitimation für blinden Muslimenhass gefunden zu haben.

Die große, schöne, Demokratieparty, in der wir den Luxus hatten, die Tage mit leidenschaftlichen politischen Debatten um Schnitzel, Burger, Umfahrungsstraßen oder Bargeld in die Verfassung zu verbringen, ist aus. Wir haben in dieser Gesellschaft fundamentale und tiefgreifende Probleme, vor denen wir uns nicht mehr hinwegducken können, und die auch nicht von selbst verschwinden werden.

Es ist einerseits schockierend zu sehen, was durch den Nahostkonflikt plötzlich aufbricht – es erinnert an unsere dunkelste Geschichte. Andererseits, so ehrlich müssen wir zu uns sein: Es war immer da, schlummerte vor unseren Augen. Wir haben nur weggesehen – und haben gehofft, dass sich die Dinge von selbst erledigen. Dabei haben wir übersehen, dass in diesem bisher friedlichen Land viele nicht so friedfertige Menschen leben, die nur auf die richtige Gelegenheit gewartet haben, um zu zündeln. Sie sehen sie jetzt gekommen.

Was bisher dagegen getan wird? Es gibt große Bestürzung und große Solidaritätsbekundungen, Verurteilungen seitens der Politik und auch weiten Teilen der Zivilbevölkerung. Was das nützt? Wenig. Denn Menschen, die Friedhöfe anzünden, jüdische Kinder beschimpfen, oder muslimische bespucken, die interessieren Worte wohl schon lange nicht mehr – oder waren dafür vielleicht auch nie zugänglich.

Eine Demokratie lebt vom Dialog – aber Worten müssen auch Taten folgen. Die Politik wird sich mit der Verfasstheit der Inneren Sicherheit ernsthaft auseinandersetzen müssen. Sich fragen müssen, ob es nicht doch mehr Personal, neue Gesetze und schärfere Regeln bräuchte. Das betrifft das Strafrecht wie die Regeln für Zuwanderung – wer hierherkommt, weil er angeblich Schutz vor Krieg sucht und dann auf der Straße bei Demonstrationen die Auslöschung eines Volkes fordert, sollte sein Recht, seinen Platz in einer freien, liberalen Demokratie zu finden, verwirkt haben. Aber auch am rechten Auge sollten wir unsere Brille wieder putzen: Denn die antisemitischen Vorfälle mit historischer Wurzel nehmen im Windschatten des Nahostkonflikts ebenso wieder zu wie widerlichster Rassismus. Die Linke hat beim Antifaschismus große Verdienste – und darum auch eine Pflicht, in ihren eigenen Reihen gegen aufschwellenden Judenhass vorzugehen.

Was die Außenverteidigung betrifft: Sollte ein Militär in Zeiten wie diesen nicht wieder mehr als solches verstanden werden? Das würde mit Aufrüstung einhergehen – der Aufschrei ist gewiss.

Es geht auch um Integration. Um das Problem an der Wurzel zu packen, muss man sich um die Kinder von Zuwanderern kümmern. Je früher und länger sie in Bildungsstrukturen eingegliedert werden, desto eher kann man sich um ihre Prägung kümmern. Stichwort: Zweites verpflichtendes Kindergartenjahr für alle – und Ausbildung bis 18. Und wer sich nicht daran hält, dem werden eben Leistungen gestrichen. Es gibt aber auch Einflusssphären, außerhalb des Bildungsbereichs, die wir nicht unter Kontrolle haben: Radikalisierung findet via Tiktok, Instagram und anderen Foren nur allzu einfach statt. Es gibt dringenden Handlungsbedarf.

Vor dem Bundeskanzleramt ist eine Baustelle, auf der ein Schild hängt, dort steht: „Demokratie muss jeden Tag erneuert werden.“ Populisten sind aufgerufen, sich zusammenzureißen und in einen konstruktiven Dialog einzusteigen. Und jene, die Probleme aus Angst vor Populisten allzu lange nicht angegriffen haben, sind aufgerufen, ihren Mut wieder zu finden. Wie die Konzentrationsregierung in Israel zeigt, können auch die zerstrittensten Lager zusammenzufinden, wenn es wirklich wichtig ist. Jetzt geht es um nichts weniger als um unsere freie Welt.

Anna  Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.