Kolumne

Herrkarlmäßig halt

Wenn sich die Umstände ändern, muss das für den Charakter nichts heißen. Das muss sich ändern.

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Am 15. November 1961 wollten die Österreicherinnen und Österreicher fernschauen, das waren sie damals schon gewohnt, aber was sie da zu sehen bekamen, war kein leichtes Unterhaltungsprogramm. Sie sahen sich,wenigstens sehr viele von ihnen, wie in einem Spiegel, sie begegneten sich auf der Mattscheibe selbst. Das war kein schöner Anblick. Es gab Ärger. Die Spiegelmacher hießen Carl Merz und Helmut Qualtinger, zu dieser Zeit bereits berüchtigte Partner in Crime in Sachen Darstellung der österreichischen (und deutschen) Seele in Zeiten des Wirtschaftswunders. Der „Herr Karl“, wenngleich männlich, ist ein geschlechtloses kulturelles Muster, das jede, jeder kennt: der ewige Opportunist, der erst bei den Sozis ist, dann bei den Klerikalfaschisten um Engelbert Dollfuß im totalitären österreichischen Ständestaat, aber die „Zeichen der Zeit“ erkennt, als die Nazis den missliebigen Konkurrenten im Kanzleramt ermorden, und sich schnurstracks nach der Okkupation Österreichs 1938 eben den Nazis andient, um sich nach dem unrühmlichen und relativ zügigen Ende des „Dritten Reichs“ mit Russen und Amerikanern gutzustellen. Man weiß ja nie.

Nun hätte man meinen können, dass das Werk von Merz und Qualtinger im demokratischen Österreich, 16 Jahre nach dem Ende der Hitlerei und sechs Jahre nach dem Abzug der Alliierten, auf Beifall hätte stoßen müssen. Der Herr Karl, der fiese, kleine, verlogene, immer sich anpassende Opportunist, er hätte ja eigentlich das Feindbild des neuen Österreich sein müssen. Hätte. Stattdessen gab es massenhaft und weitgehend Empörung. Damit hatten die Autoren auch nicht gerechnet. Im Blick hatten sie einige. Aber es waren mehr.

Mehr als sechs Jahrzehnte später ist die Erfahrung immer noch frisch. Denn dem Herrn und der Frau Karl geht es nach wie vor gut. Sie sitzen in ihren Vorratskellern, und wenn die Chefin ruft, dann tun sie so, als ob sie beschäftigt sind. Sie schimpfen auf die Ausländer und verachten ihre Nachbarn, weil jeder, zu unrecht natürlich, mehr hat als sie selber. Und wenn man sie fragt, wie es ihnen dabei geht, dann sagen sie: Ich war immer Idealist. Herrkarlmäßig halt. Das Problem hieß damals und heißt heute Kultur. Kultur ist nicht das, was im Burgtheater gespielt wird, sondern das, was wir für ganz normal halten, alle Tage. All die Sachen, über die wir nicht groß nachdenken, weil wir sie die ganze Zeit tun oder so lange dulden, auch bei anderen, dass sie uns nicht mehr auffallen. Darin liegt die größte Gefahr für Mensch und Demokratie. Eine Kultur, in der Herr und Frau Karl sich immer als Opfer der Umstände darstellen können und in der immer die anderen schuld sind, wenn was nicht funktioniert, das war die, auf die Merz und Qualtinger es abgesehen haben. Re-Education haben die Amerikaner die dringendste Notwendigkeit nach dem Krieg genannt, und das ist nicht einfach jene Umerziehung, die auch in totalitären Regimen – etwa bei unserem lieben Handelspartner China – gang und gäbe ist.

Dem Herrn und der Frau Karl geht es nach wie vor gut. Sie sitzen in ihren Vorratskellern, und wenn die Chefin ruft, dann tun sie so, als ob sie beschäftigt sind.

Re-Education bedeutet, dass man an die Grundlagen geht, den Menschen dazu bringt, dass er einerseits genug Selbstbewusstsein entwickeln kann, um nicht jedem populistischen Lumpen und auch nicht jedem autoritären Chef hinterherzulaufen, und andererseits genug Selbstständigkeit, um Freiheit und Selbstbestimmung auch auszuhalten. Die Erziehung zur Freiheit ist aber in Österreich immer Phrase geblieben. Wer mit aufrechtem Kopf ins Leben ging und geht, dem zeigt man es dann schon. Opportunismus ist keine Leitkultur. Das gilt zu allen Zeiten.

Wir haben eine Vorderbühne, auf der geht es demokratisch, fesch und weltmännisch zu. Und wir haben eine Hinterbühne, die groß und weit ist und auf der die Karls dieser Welt regieren. Das ist kein moralischer Appell. Das wäre ja auch lächerlich, nachdem so viele moralische Appelle wirkungsfrei in den Raum gestellt wurden. Es ist die letzte Verwarnung, bevor uns die Demokratie und das Gute an ihr, das wir täglich bemerken, die Kündigung gibt.

Wir sind Teil des Westens, der Aufklärung. Das ist sicher nicht das Paradies auf Erden, aber eindeutig das kleinere Übel, wenn man es mit dem Leben in Russland, China, Nordkorea oder dem Iran vergleicht, nur um ein paar Beispiele zu geben. Solche Verhältnisse lassen sich aber nicht dauerhaft mit Menschen betreiben, denen diese Umstände egal sind. Es fehlt an allen Ecken und Enden an Zivilgesellschaft, das gilt nicht nur für dieses Land. Diese Zivilgesellschaft, mit der Herr und Frau Karl nix zu tun haben wollen, braucht keinen Regierungsbeschluss und keine Werbekampagne. Sie braucht gute Nachbarschaft, Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Zugewandtheit zu den Problemen anderer Leute und ganz viel Verbindlichkeit, also Zuverlässigkeit. Sachen, bei denen man sich selbst im Spiegel sehen kann, ohne entsetzt aufschreien zu müssen. Das geht.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.