Kolumne

The Drugs don’t work: Selfies sind Selbstbetrug

Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen, ich mache nur ein Selfie.

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Vor Kurzem war ich in Venedig, mit Frau und Sohn. Bekanntlich wollen die Behörden für Venedig künftig Eintritt verlangen, von zehn Euro ist die Rede, und die chinesische Kolonie Hallstatt in Oberösterreich überlegt sich das jetzt auch, damit die Stadt nicht ständig von Leuten verstopft wird und vielleicht jemand glaubt, dass dort keine Idylle, sondern Dauertheater ist.

In Venedig ist auch immer viel los.

Das war früher auch so. Als Kind war ich mit meinen Eltern dort, wir sind von Santa Lucia, dem Bahnhof also, brav den Schildern nach in Richtung Markusplatz getrottet. Das ging noch.

Die Selfies brauchen Platz. Eigentlich brauchen sie den Markusplatz für sich allein, auch die Tauben stören, alles stört.

Heute geht das nicht mehr. Man kommt eigentlich schon aus dem Bahnhof nicht mehr heraus, weil gefühlt alle, die ein Handy haben, sich dabei filmen oder fotografieren müssen, wie sie ankommen, am Bahnsteig stehen, wie sie vom Bahnsteig in die Bahnhofshalle gehen und wie sie diese Bahnhofshalle wieder verlassen, wo es dann erst richtig losgeht. Es gibt mindestens 15.000 Selfie Opportunities bis zum Markusplatz. Die Sehenswürdigkeit ist nicht mehr die Stadt, ihre Gebäude, die Sehenswürdigkeit ist man selbst. Und alle anderen stören, klar. Dafür hat sich das schöne Wort „Photobomb“ eingebürgert für die, die schüchtern an der Szene vorbeigehen. Die Selfies brauchen Platz. Eigentlich brauchen sie den Markusplatz für sich allein, auch die Tauben stören, alles stört. Jean-Paul Sartre klopft sich, wo immer er das auch heute sehen mag, auf die Schenkel vor Lachen: Die Hölle, das sind die anderen. Das stimmt aus jeder Perspektive.

Bei der Individualität geht es im Kern um unser Selbstwertgefühl. Wir müssen uns mögen, wie wir sind. Darauf baut ein freies, selbstbestimmtes Leben auf, in dem es nicht darum geht, was die anderen sagen. Auf den ersten Blick könnte es ja so sein, dass die Selfie-Taliban gerade diesem Prinzip rücksichtslos huldigen, doch das ist falsch. Wir werden Augenzeugen eines verdrehten, schizophrenen Selbstbewusstseins, des Selfieismus.

Wer Selfies macht, fühlt sich durch andere bei der Selbstbeweihräucherung gestört. Aber in den Selchkammern der sozialen Netzwerke, TikTok, Instagram und LinkedIn vor allem, wo Eigenlob zur ersten Nutzerpflicht gehört, ist das eine Währung, jedenfalls scheinbar. Da schreiben sie dann ihre Kommentare drunter: „Du siehst so toll aus. Wow!“ Was so viel heißt wie das genaue Gegenteil: „Wen, glaubst du, interessiert’s?“

So kommt am Ende statt mehr Selbstwert mehr Selbstbetrug heraus. Und eine gespaltene Persönlichkeit.

Die Selfie-Selbstwahrnehmung braucht immer die anderen, die einem gleichzeitig auf den Wecker gehen. So wird man eben nicht zu einer selbstbestimmten Person, sondern im Grunde zum sozialen Drogenabhängigen. Aber, wie schon The Verve gesungen haben: The Drugs don’t work.

Immer mehr Leute werden zur geschlossenen Gesellschaft, und die ist, machen wir uns nichts vor, eigentlich eine geschlossene Anstalt, in der genau das Gegenteil von dem passiert, was man will. Selfies erhöhen die Abhängigkeit, sie emanzipieren nicht. Schön, wenn man eine Erinnerung teilt mit anderen, dumm, wenn man glaubt, dass das alles ist. Statt sich dauernd selbst zu knipsen und inhaltsleer die immer gleichen Phrasen zu verbreiten, wäre es ja mal super, wenn man mit anderen wieder redet. Zuhört. Aufpasst. Nachdenkt.

Georg Franck, der Autor der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, hat vor 25 Jahren seinen Bestseller veröffentlicht. „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz“, so lautet der viel zitierte Schlüsselsatz daraus.

Die Aufmerksamkeit anderer Menschen wird gefordert, unaufhörlich. Ich, mein Anliegen, meine Weltsicht, meine Haltung. Es ist wie in der alten Werbung, in der ein Angeber die Fotos seines Hauses, seines Autos und seines Boots vor einem alten Schulfreund hinblättert, um diesen zu beschämen. Im verpönten Materialismus hat man noch mit seinen Sachen angegeben. Was bietet die Selfie-Kultur? Maxi und Mitzi vor der Gondel?

In der alten Ökonomie der Aufmerksamkeit musste man sich die Präsenz im Bewusstsein anderer Leute erarbeiten – „auf sich aufmerksam machen“, wie es so schön heißt. Dafür muss man sich bemühen. Um andere werben. Sich selbst nicht so wichtig nehmen, eigentlich. Den Satz dafür hat die kanadische Kulturwissenschafterin Margaret Mead geprägt: „Wir sind alle ganz verschieden. Wie alle anderen auch.“

Dafür muss man niemandem im Weg stehen.

Danke.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.