Rechte Märchen, linke Märchen

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Das beliebteste Genre im Journalismus – und ein unverzichtbares dazu – geht so: Eine Regierung verspricht das Blaue vom Himmel, täuscht damit die Öffentlichkeit und macht sich zu Unrecht (meist vor einer Wahl) beliebt. Der Journalismus tritt auf den Plan und entlarvt das Versprechen als Humbug.

Ein ungleich weniger beliebtes Genre funktioniert hingegen so: Die Öffentlichkeit verlangt das Blaue vom Himmel, täuscht sich damit selbst und beginnt, die Regierung zu verteufeln. Der Journalismus tritt (allerdings meist eher zögerlich) auf den Plan und entlarvt die Forderungen der Öffentlichkeit als irregeleitet.

Klar, Journalistinnen und Journalisten sehen sich als Korrektiv zu den Herrschenden, nicht als kritische Instanz gegenüber dem Souverän. Manchmal aber ist Letzteres nötig. Jetzt zum Beispiel.

Regierungen haben derzeit miserable Umfragewerte, und dabei ist es ziemlich egal, welcher ideologischen Richtung sie angehören. US-Präsident Joe Bidens Zustimmungswert liegt bei 40 Prozent, Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron grundelt bei 26 Prozent, die österreichischen Koalitionsparteien ÖVP und Grüne kommen gemeinsam auf 33 Prozent, die Ampelkoalition in Deutschland auf 42,5 Prozent. Die Mehrheiten wenden sich ab.

Unzufriedenheit mit der Arbeit der Regierung zu äußern, ist eine wunderbare Sache, ohne die eine Demokratie nicht denkbar ist. Was aber, wenn diese Unzufriedenheit auf unrealistischen Erwartungen beruht?

Die französische Regierung hat zuletzt das Pensionsantrittsalter von 62 auf 64 Jahre angehoben, und die Reaktion der Bevölkerung, angeheizt durch die Oppositionsparteien, ist von ungekannter Heftigkeit. Massendemonstrationen, Streiks und Störaktionen sollen Präsident Macron stürzen. Tatsächlich war das Pensionsantrittsalter in Frankreich im europäischen Vergleich vor der Reform ungewöhnlich niedrig und das Rentensystem deshalb schon bald nicht mehr finanzierbar. In einzelnen Punkten der vorgeschlagenen Änderung mag es bessere Alternativen geben, doch das Grundproblem der wachsenden Finanzlücke zu leugnen, ist verantwortungslos – und höchst populär.

Von ganz rechts tobt Marine Le Pen, Chefin der Rechtsaußen-Partei Rassemblement National, die Reform sei eine „Gaunerei an der Bevölkerung“, von links sekundiert Jean-Luc Mélenchon, Chef der Links-Partei „Unbeugsames Frankreich“, den Menschen würden „zwei Jahre ihres Lebens gestohlen“.

Rechte Märchen und linke Märchen werden gern erzählt und noch lieber geglaubt. Unangenehme Wahrheiten haben es zusehends schwer.

Die grassierende Inflation löst ähnliche Reaktionen aus. Ökonomen wie Gabriel Felbermayr, Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), sprach unablässig die betrübliche Wahrheit aus, dass die Inflation unweigerlich „als Wohlstandsverlust zu Buche schlagen“ werde, und fügte hinzu, dass höhere Einkommen „die Hauptlast tragen“ sollten.

In der Bevölkerung trifft eine Verteilung der Last jedoch auf wenig Verständnis. Es herrscht die Erwartung, dass alle Einkommensschichten mit Ausnahme der Reichen von Wohlstandsverlusten weitgehend verschont bleiben müssen. Diesen Wunsch kann keine Regierung erfüllen.

Forderungen nach (höheren) Steuern auf Vermögen und Erbschaften sind in allen westlichen Industriestaaten durchaus sinnvoll – aus Gründen der Gerechtigkeit. Doch dass mit den Erlösen daraus alle gerade anstehenden Nöte behoben und Projekte finanziert werden können, ist ein Mythos. Vermögensbezogene Steuern aller Art wurden in den vergangenen Jahren – verbal – dazu herangezogen, die Steuern auf Arbeitseinkommen zu senken, die Kosten der Covid-19-Pandemie zu finanzieren, die Investitionen für Klimaschutzmaßnahmen zu decken und das Pensionssystem zu erhalten. Diese Liste ist alles andere als vollständig.

Spanien etwa hebt seit Anfang des Jahres landesweit eine international viel gelobte, progressive Reichensteuer ein, doch den protestierenden Massen in Frankreich sei gesagt: Das Pensionsantrittsalter in Spanien wird bis 2027 schrittweise auf 67 Jahre angehoben, daran ändert die Reichensteuer gar nichts (und die linke Regierung wird sich hüten, die vor langer Zeit beschlossene Pensionsreform zurückzunehmen).

Mit der Migration ist es nicht anders. Das rechte Märchen besagt, man könne Migrationswellen stoppen, Einwanderung verhindern, alle unerwünschten Zuwanderer zurückschicken. Wahr ist, dass man Migration besser oder schlechter managen kann, aber wer wissen will, ob es möglich ist, sie komplett zu unterbinden, der werfe einen Blick nach Italien, wo die rechts-rechte Regierung von Giorgia Meloni beim Einlösen ihres Versprechens krachend scheitert. (Einmal ganz abgesehen davon, dass es gar nicht wünschenswert wäre.)

Warum gelingt es Politikern nicht mehr, ihrer Bevölkerung unausweichliche Härten zu vermitteln? So wie einst prototypisch Nachkriegskanzler Leopold Figl, der vor Weihnachten im Jahr 1945 seinen Landsleuten „ein schönes Päckchen voll Sorgen“ am Christbaum versprach – und sonst nichts.

Die naheliegende Antwort: Weil das Angebot an wunderschönen, populistischen Märchen heute allzu verlockend ist. Wer wollte da eine triste Schilderung zu hören bekommen?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur