Kommentar

Israel: Das Verhängnis von Rafah

Wer Israel liebt, wendet sich von dessen Regierung ab.

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Rafah, der Name des Ortes im äußersten Süden des Gazastreifens, ist zum Schlüsselbegriff der Debatte über den Krieg zwischen Israel und der Hamas geworden. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will diesen letzten, noch nicht entscheidend bombardierten und von Bodentruppen durchkämmten Flecken des Gazastreifens demnächst angreifen. Weil dort aber mehr als eine Million palästinensische Binnenvertriebene in Häusern, Zelten und auf nacktem Boden Zuflucht gesucht haben, scheint eine Katastrophe für die Bevölkerung mit vielen Toten unausweichlich. Die USA, der mächtigste Partner Israels, beknien Netanjahu, von einer Offensive abzusehen. Dieser stellt sich bisher taub, ein Angriff könnte bevorstehen.

Rafah könnte zum Endpunkt einer unheilvollen Entwicklung werden. Seit Monaten vergrößert sich der Riss zwischen Israel und seinen Verbündeten. Die Regierung Netanjahu ist entschlossen, mit derselben militärischen Wucht, mit der ihre Streitkräfte bisher vorgegangen sind, auch die vier mutmaßlich verbliebenen Hamas-Bataillone, die in Rafah vermutet werden, zu zerreiben. Aus ihrer Sicht scheint das logisch: Warum nicht den Job zu Ende bringen? Immer noch sind 134 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas. Das Trauma des 7. Oktober verlangt nach der Wiederherstellung des Gefühls von Sicherheit und Stärke.

Diejenigen, die Netanjahu jetzt widersprechen, so heftig und scharf wie noch nie, sind keine Antisemiten: Chuck Schumer, Mehrheitsführer der Demokraten im Senat, ist Jude und steht sein gesamtes politisches Leben lang an der Seite Israels. Er war gegen den von Israel abgelehnten Iran-Deal, er stimmte für ein Gesetz gegen die antiisraelische Boykottbewegung BDS, er unterstützte alle wesentlichen Gesetze, die Israel US-Hilfe zuerkannten. Jetzt wirft Schumer Netanjahu vor, dieser sei „zu sehr bereit, die zivilen Opfer im Gazastreifen zu tolerieren“, und er fordert Neuwahlen in Israel. Nachsatz: „Wir lieben Israel bis in unsere Knochen.“

Diejenigen, die Netanjahu jetzt widersprechen, so heftig und scharf wie nie, sind keine Antisemiten.

Manche Verbündete setzen konkrete Maßnahmen. Kanadas Außenministerin Mélanie Joly gab am Dienstag der abgelaufenen Woche bekannt, ihr Land werde die Waffenexporte nach Israel einstellen. In Dänemark und anderen Staaten laufen gerichtliche Verfahren, die auf dieselbe Maßnahme abzielen.

Schumer und Gleichgesinnte wenden sich nicht von Israel ab, im Gegenteil. Sie sehen vielmehr, dass die Regierung Netanjahu das Land auf einen Abgrund zusteuert. Das Weiße Haus und andere Verbündete sind überzeugt, dass ein Angriff auf Rafah kaum Geiseln lebendig befreien werde und Israels Sicherheit nicht erhöhe, sondern in Wahrheit auf existenzielle Weise gefährde. Denn die größte Gefahr für den Staat Israel geht jetzt nicht von der Hamas aus. Die Reste deren letzter Bataillone lassen sich nach Einschätzung des Weißen Hauses mit gelinderen Mitteln in Schach halten als durch Bombardements auf ein Gebiet voll mit schutzlosen Zivilisten. Viel riskanter ist es, dass Israel unter der Regierung Netanjahu Gefahr läuft, den Rückhalt seiner engsten Verbündeten zu verlieren. Selbst die uneingeschränkt verständnisvolle Biden-Administration kann nicht länger rechtfertigen, dass Israel weitere Tausende Tote und eine drohende Hungerkatastrophe in Gaza in Kauf nimmt.

Die israelische Tageszeitung „Haaretz“ spricht es aus: Israel droht zum Paria der Weltpolitik zu werden. Das ist das Schlimmste, das dem kleinen demokratischen Staat passieren kann, der sich in einer Region voller feindlicher Diktaturen und Terrorgruppen behaupten muss. Das beunruhigende Szenario ist nicht unrealistisch: Joe Biden könnte für lange Zeit der letzte proisraelische demokratische US-Präsident sein; die USA könnten ihre militärische Unterstützung zurückfahren (seit der Staatsgründung beläuft sich die Hilfe auf annähernd 300 Milliarden Dollar; zudem haben sich die USA verpflichtet, die militärische Überlegenheit Israels gegenüber seinen Nachbarn aufrechtzuerhalten), und auch der politische Beistand der Amerikaner etwa bei UN-Abstimmungen wäre Geschichte.

Ähnliches gilt – in weit geringeren Dimensionen – für die bisherige Allianz anderer westlicher Staaten mit Israel. Die Verbündeten werden Israel nicht fallen lassen, aber selbst wenn sie auf Distanz gehen, wäre das ein existenzielles Risiko. Das US-Außenministerium muss derzeit aufgrund der eigenen Gesetzeslage prüfen, ob Israel die von den USA gelieferten Waffen innerhalb der Grenzen des humanitären Völkerrechts einsetzt. Israel beteuert dies, die Zweifel daran sind weltumspannend.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kann all das ignorieren, an seinem Kriegsplan festhalten und Rafah von seiner Armee so zurichten lassen, wie er es mit Gaza-Stadt und anderen Orten getan hat. Das wäre eine Katastrophe für die palästinensische Bevölkerung dort. Es wäre ein Debakel für die USA, für die EU, für die UN. Es wäre ein Schlag ins Gesicht für die arabischen Staaten. Und aus all diesen Gründen wäre es ein Desaster für Israel selbst.

Es gibt nur eine Gruppe, die sich in ihrem unsäglichen Zynismus darüber freuen könnte: die Hamas.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur