Ich doch nicht!
Im Jahr 1945 erschien George Orwells „Animal Farm“. Der Krieg ging gerade zu Ende, eine Diktatur, die der Faschisten, war am Boden zerstört, die andere, die der Stalinisten, war auf dem Höhepunkt ihrer Macht angekommen. Orwells Gleichnis von den Tieren war unverkennbar eine Geschichte über Menschen und die Gesellschaften, die sie bildeten, ihre Illusionen und ihre Unfähigkeit, sich selbst als die Ursache des Problems zu erkennen, dem sie so verzweifelt zu entrinnen versuchten.
Das Problem mit dem moralischen Spiegel, den Orwell schuf, ist einfach. Jeder Pfarrer und jede Politikerin, die das macht, weiß Bescheid. Da steht man vor den Leuten und redet ihnen ins Gewissen. Am Sonntag zum Beispiel in der Kirche oder bei einer Rede. Alle hören gespannt zu. Sie hören etwas über Selbstverantwortung, über Mut, über Courage, sich gegen Falsches zu stellen, auch wenn dieses Falsche aus allen Löchern kriecht und einen umstellt. Sie hören zu, wenn von Heuchlern die Rede ist und von Lügen, vom Betrügen und vom Stehlen, vom Wegschauen, wenn andere in Not geraten. Der Redner wird immer lauter, appellativer, ernster. Und die Zuhörer nicken ganz energisch, wenn Missstände angesprochen werden.
Denn sie wissen: Ja, so sind sie, alle anderen, außer mir.
George Orwell wusste genug über Menschen, um auch zu wissen, was bei Predigten, Büchern, Filmen, Reden (oder Kolumnen wie dieser) fast selbstverständlich gilt: Die Bösen sind immer die anderen. Eine schlechte Welt ist ihr Werk. Wären alle wie ich, dann wär alles gut.
Deshalb schrieb er im Nachwort von „Animal Farm“ zur Klarstellung: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“
Das ist richtig, aber ein zähes Geschäft, denn es setzt voraus, dass man etwas persönlicher werden muss, um bei dieser Frage sachlich zu bleiben. Wie Pfarrer, Marketingleute und Politiker wissen, haben die Leute nichts dagegen, wenn man über allgemeine moralische Verfehlungen spricht, das hilft ja eher beim Verkaufen. Auch wenn ganze Gruppen – eingebildete Junge, überhebliche Alte – angesprochen werden, kann man immer noch sagen: Ich doch nicht!
Unsere Kultur erzieht uns seit Langem dazu, uns der Verantwortung für das, was wir tun und lassen, zu entziehen. Wir erkennen uns in der Kritik nicht wieder, nicht etwa, weil sie uns nicht betrifft, sondern weil uns von klein auf beigebracht wurde, dass wir für nichts, gar nichts verantwortlich sind, es eh nur gut meinen und dabei nie zu den Tätern, sondern stets nur zu den Opfern gehören. So wie Kriegsverbrecher am Ende vor dem Gericht nur Befehle ausgeführt haben wollen, haben wir nur getan, was alle in der Lage tun würden. Deshalb genügt es nicht, dass Predigten ihre Inhalte allgemein halten, anonymisieren. Es geht um Name und Adresse. Eigentlich kann nichts Schlimmes passieren. Wenn jemand beleidigt ist, weil man ihm den Spiegel vorhält, dann ist es eher nicht schade um eine solche Bekanntschaft. Bei allen anderen kommt man ins Reden und vielleicht auch ein wenig ins Nachdenken. Das hilft nicht immer, so ist der Lauf der Welt. Aber wenn nicht „wir alle“, sondern Sie, Du und ganz besonders ihr da hinten angesprochen werdet, ist die Welt ein kleines bisschen wahrhaftiger geworden. Das kann ihr bei den ganzen Lügenbaronen und -baronessen, die ja nicht nur in Washington und Moskau sitzen, nicht schaden.
Es geht nicht um das Diffamieren, wenn man selber keine guten Argumente hat, jene Totschlagargumente „ad hominem“ also, wie sie Populisten aller Lager gerne auspacken. Schön sachlich bleiben, wenn man persönlich wird!
Aber wenn wir nicht auch lernen, dass es immer und überall eine individuelle Verantwortlichkeit gibt, dann haben wir einer Zukunft, die so aussieht wie die, die Orwell in seiner „Farm der Tiere“ beschrieb, nichts entgegenzusetzen. Das ist nicht nur ein Hinweis, dieses großartige Buch (wieder) zu lesen, sondern sich auch in der nächsten Predigt persönlich wiederzufinden. Einfach mal probieren.