Geh zurück nach vorn

Die Angst vor der Zukunft kommt daher, dass wir unsere Vergangenheit nicht verstehen – und ratlos in der Gegenwart herumlaufen. Wer schlau ist, schaut sich in alle Richtungen um.

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Im November 2021, mitten im Lockdown der Coronapandemie, erschien ein Film, den es schon gab. Das klingt komisch, ist es aber nicht, denn was der neuseeländische Regisseur Peter Jackson in insgesamt 468 Minuten zusammengestellt hatte, war einerseits alt und trotzdem brandneu, irgendwie vertraut und dennoch völlig überraschend. Aus insgesamt 56 Stunden Filmmaterial hatte er die Geschichte des 1969 entstandenen, aber erst ein Jahr später erschienenen Albums „Let it Be“ der Beatles geschnitzt. Das ursprüngliche Archivmaterial war während der spannungsreichen Wochen vom englischen Regisseur Michael Lindsay-Hogg gedreht worden. Der dazugehörige Film „Let it Be“ kam 1970 in die Kinos. Aber da war die berühmteste Gruppe aller Zeiten bereits getrennt.

Warum wir darüber reden? Weil uns Jacksons Meisterwerk mit dem Titel „Get Back“ in drei Teilen à zwei Stunden in allerbester digitaler Qualität und klug geschnitten zeigt, wie Geschichte gemacht wird, wie sie aussieht, wie sie klingt. Ganz so, als habe sie sich gerade eben erst ereignet. Das ist für unser Verständnis wichtig. Wenn wir alte Schwarz-Weiß-Fotos sehen, sind die Menschen darauf und ihr Leben, die Umstände und ihre Probleme fern. Wird das Foto digitalisiert, sieht das anders aus. Genauso wichtig ist der Ton. Gute Tonaufnahmen aus alten Zeiten sind extrem rar – und wenn sie mit moderner Technik restauriert werden, ist unsere Aufmerksamkeit da. Die Vergangenheit wird fast Gegenwart. Wir sehen, dass die Leute damals gar nicht so anders waren als heute. Das erzeugt die Nähe, die wir brauchen, um uns erst für die Geschichte und dann für uns, die Menschen der Gegenwart, zu interessieren. Get back – zurückgehen – kann uns dabei helfen, heute mehr zu verstehen und uns besser zurechtzufinden.

Wir flüchten zu oft in unverbindliches Zukunftsgerede, weil wir die Sachen heute nicht anpacken wollen.

Geschichte gilt als verstaubte Wissenschaft, aber das ist sie nicht. Der Schriftsteller William Faulkner sagte: „Das Vergangene ist nie tot. Es ist nicht einmal vergangen.“ Alles, was war, ist die Voraussetzung für das, was ist. Deshalb sollte man schlau sein und sich genau umschauen in der Geschichte, und zwar in möglichst guter Qualität, damit wir uns darin heute auch wiederfinden.

Üblicherweise erwärmen sich die Leute für das, was war, nicht ganz so gern. Sie vergessen lieber, sie verdrängen. Sie preisen den Fortschritt, haben Visionen, Utopien und was weiß ich noch alles, Hauptsache Morgen. Aber das geschieht sehr oft auch nur, weil man sich nicht der Mühe unterziehen will, aus der Geschichte zu lernen, um damit die Probleme der Gegenwart ernst zu nehmen. Wir flüchten zu oft in unverbindliches Zukunftsgerede, weil wir die Sachen heute nicht anpacken wollen. Das gilt nicht nur für die Pension und das Gesundheitssystem. Das gilt fast immer auch für all die Sachen aus der Vergangenheit, die in uns knistern und knacken – und bei denen wir lieber weghören.

Kluge Menschen machen in schwierigen Zeiten lieber Bestandsaufnahme. Sie schauen sich an, was man Gutes aus der Vergangenheit mitnehmen kann und wie es in unsere Zeit passt. Was wir an Schlechtem mitgenommen haben und nun endlich einmal verwerfen könnten. Wenn einmal klar ist, was man behalten will, dann kann man auch was weglassen und die Frage stellen, was man sonst noch so braucht. Zwischen all den Kalenderblatt-Weisheiten unserer Tage sticht ein Rat positiv hervor: „Wenn alle rennen, bleib stehen und schau dich um.“ Das ist klug. Konservativ? Progressiv? Ach was. Schauen, was gut und richtig war und ist und morgen noch sein könnte, das fehlt heute. Wir brauchen nicht mehr Hype, wir brauchen mehr Hirn. Wäge ab, überlege, nutze deinen Verstand. Das Richtige bewahren, das Bessere ergänzen.

Get back, damit es vorwärts geht. Wenn wir es so sehen, ist Europa vielleicht gar nicht so zukunftslos und abgehängt, wie es scheint. Vielleicht können wir, das wäre ja nicht schlecht, von uns selber noch was lernen.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.