Robert Treichler

Robert Treichler: Der „Offene Brief“ und seine Irrtümer

Wie aus der Pflicht zur Gegenwehr eine de-facto-Aufforderung zur Kapitulation wird. Die schaurigen Denkfiguren des „Offenen Briefs“ von 28 deutschen Intellektuellen an Kanzler Scholz.

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Ein „Offener Brief“, veröffentlicht im Magazin „Emma“ und unterzeichnet von 28 prominenten Intellektuellen – darunter „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer, Schriftstellerin Juli Zeh, Schauspieler Lars Eidinger, Kabarettist Gerhard Polt, Schriftsteller Martin Walser – fordert Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz dazu auf, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner warnen, dass andernfalls ein „3. Weltkrieg“ drohe.

Die Argumente im Einzelnen:

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner entwerfen eine etwas umständliche Version des Artikel 51 der UN-Charta, der im Original besagt, dass sich ein angegriffener Staat verteidigen darf. Im offenen Brief heißt es zunächst: „Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen.“ Allerdings setzen sie dieser „Pflicht“ umgehend Grenzen, die sie aus „Geboten der politischen Ethik“ ableiten. Daraus schließen sie: „Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen.“

Mit anderen Worten: Ein Staat, der angegriffen wird, habe zwar die „Pflicht“ zur Gegenwehr, es sei denn, der Aggressor verfügt über Atomwaffen. Dann nämlich verwandelt sich die „Pflicht“ in ein „kategorisches Verbot“, was für alle von Russland angegriffenen Staaten – im konkreten Fall natürlich für die Ukraine – höchst bedauerlich ist, denn ihnen wird die Gegenwehr damit per offenem Brief untersagt. Adieu, Artikel 51 der UN-Charta!

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Im offenen Brief wird der deutsche Kanzler gewarnt: „Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen.“ Damit übernehmen die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner eine Behauptung des Kremls, die von Experten für internationales Recht – und natürlich von der westlichen Allianz – bestritten wird. Die Nato entsendet keine Soldaten und stellt der Ukraine keine Stützpunkte für Angriffe zur Verfügung. Die bloße Lieferung von schweren Waffen mache ein Land noch nicht zu einer kriegsführenden Partei, sagt etwa Adil Haque, Professor an der Rutgers Law School.

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„Ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.“ Aus der – falschen – Annahme, Deutschland mache sich durch Waffenlieferungen zur Kriegspartei, folgern die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, dass Russland daraufhin Deutschland angreifen werde, was die Nato zwänge, Deutschland zu Hilfe zu kommen – und so begänne der 3. Weltkrieg.

Weshalb Russland ausgerechnet Deutschland angreifen sollte, nicht aber die anderen Staaten, die bereits schwere Waffen liefern, bleibt unerörtert. In Wahrheit müsste der offene Brief die Forderung erheben, dass überhaupt kein Nato-Staat (und damit letztlich gar kein Staat) Waffen an die Ukraine liefert, denn ein russischer Angriff auf einen Nato-Staat hätte immer die Konsequenz der Beistandspflicht.

Die logische, einzig mögliche Folge des offenen Briefes lautet daher: Kapitulation der Ukraine. Von der „Pflicht“ zur Gegenwehr bis zur unausweichlichen Kapitulation benötigen die Intellektuellen lediglich zwei Absätze.

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Als wäre ein Grund zur Kapitulation nicht genug, findet sich im offenen Brief ein weiterer: „Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.“ Die Zerstörung und das menschliche Leid dienen den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern nicht etwas dazu, den Urheber und Verantwortlichen des Angriffskriegs Wladimir Putin empört dazu aufzufordern, die Kampfhandlungen einzustellen. Stattdessen wird der „berechtigte Widerstand“ der Ukraine ebenso rasch wie die „Pflicht zur Gegenwehr“ in sein Gegenteil verkehrt, nämlich in die deutliche Aufforderung, es sein zu lassen mit dem eigentlich ja doch gewissenlosen Widerstand.

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Auch wer die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation trägt, wird im „offenen Brief“ erörtert, und, nein, Putin allein ist es ganz sicher nicht: „Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.“

Putin ist demnach bloß der „ursprüngliche Aggressor“, doch da gebe es auch noch andere, die „sehenden Auges“ mindestens ebenso schlimme Dinge trieben. Denn, so die Denkfigur der Intellektuellen: zu einer Eskalation gehören immer zwei – der Täter und das Opfer, und das Opfer braucht gar nicht so zu tun, als liefere es nicht auch in Tateinheit mit jenen, die ihm bei der Verteidigung helfen, „Motive“. Das verbrecherische Handeln Putins ist übrigens ohnehin nur „gegebenenfalls“ ein solches.

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Der offene Brief enthält auch einen Vorschlag zur Lösung des Krieges: Wir bitten Sie (gemeint ist Kanzler Scholz, Anm.) im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“

Keine schlechte Idee. Leider kennt die Welt bisher die genauen Kriegsziele Russlands nicht aus erster Hand, sondern kann nur aufgrund von zerstörten Städten und Landstrichen mutmaßen, wie groß der Teil der Ukraine ist, den Putin behalten möchte. Mutmaßlich würden die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner bei der Abtretung ukrainischen Staatsgebiets an Russland nicht kleinlich sein. Denn wer kleinlich ist, eskaliert und liefert sehenden Auges Motive zu – gegebenenfalls – verbrecherischem Handeln

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur