Wohlstand macht feige

Jahrzehntelanger, selbstverständlich gewordener Wohlstand hat das Land risikoavers gemacht. Um die Krise zu bewältigen, brauchen wir mehr Draufgängertum.

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Österreich zählt (noch immer) zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (ja, wir sind etwas abgerutscht, aber dennoch), einem gut ausgebauten Sozialstaat und stabilen politischen Verhältnissen (auch wenn es zuletzt turbulent war, sehen Sie sich auf der Welt um) hat sich die Alpenrepublik über Jahrzehnte einen Ruf als Insel der Seligen erarbeitet. Doch dieser Wohlstand hat nicht nur positive Auswirkungen – eine bemerkenswerte Begleiterscheinung ist eine zunehmende Risikoaversion in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Und das ist vor allem in der Krise, in der wir derzeit stecken, ein großes Problem.

Wo materielle Grundbedürfnisse weitgehend gedeckt sind, verschiebt sich der Fokus. Sicherheit – finanziell, sozial, beruflich – wird zur obersten Priorität. In einem Umfeld, das von Stabilität geprägt ist, wird plötzlich jede Form von Veränderung als unzumutbares Risiko empfunden. Die Bereitschaft, Wagnisse einzugehen, nimmt ab. Das betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern auch Unternehmen, Institutionen und politische Entscheidungsträger. Die Frage „Was verlieren wir?“ tritt immer häufiger vor die Frage „Was können wir gewinnen?“

Das zeigt sich besonders, wenn es um Innovation geht. Während Start-up-Nationen wie Israel oder die USA auf Risiko setzen, um technologisch führend zu bleiben, ist in Österreich die Angst vor dem Scheitern oft größer als die Lust auf Erfolg. Die Gründungszahlen stagnieren, die Kapitalverfügbarkeit für junge Unternehmen ist begrenzt, und der Weg aus der Komfortzone fällt schwer – gerade, weil das bestehende System so gut funktioniert und schon auch wirklich bequem ist.

Für viele – insbesondere für jene, die in den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs sozialisiert wurden – ist Wohlstand zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch gerade diese Selbstverständlichkeit nährt eine diffuse Angst: Was, wenn das Erreichte verloren geht? Das zeigt sich nicht nur im persönlichen Verhalten – etwa, dass vor allem die einkommensstarken Schichten ihr Geld derzeit lieber bunkern als ausgeben – sondern auch im politischen Diskurs.

Die Debatten rund um Migration, Klimapolitik oder Digitalisierung sind von Abwehrhaltungen geprägt. Veränderungen werden als Bedrohung empfunden – für den Arbeitsplatz, für die Lebensweise, für das kulturelle Selbstverständnis. Jedes Windrad, das aufgestellt werden soll, löst beinahe allergische Reaktionen aus. Die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, ist nicht wirklich da. Stattdessen dominieren Schutzreflexe, die sich in einem erstarkenden Wunsch nach staatlicher Kontrolle und Regulierung äußern.

Österreichs politisches System steht exemplarisch für diese Entwicklung. Konsensorientiert, kontrolliert, langsam – man agiert vorsichtig, oft mit Blick auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Mutige und dringend notwendige Reformen, etwa im Bildungs-, Pensions- oder Steuersystem, bleiben aus, weil sie Widerstand hervorrufen könnten – selbst dann, wenn uns das Wasser wie jetzt budgetär bis zum Halse steht. Die Angst, potenzielle Wähler zu verprellen, wiegt schwerer als die Notwendigkeit, das Land zukunftsfit zu machen. Die Rechnung bekommen wir gerade präsentiert: Die EU hat ein Budgetdefizitverfahren eingeleitet, weil wir in vielen Bereichen zu sehr in der Vergangenheit als in der Zukunft leben. Und obwohl wir das wissen, geschieht immer noch nicht wirklich was. Keiner will den ersten Schritt machen und den Stein ins Rollen bringen.

Dabei wären gerade in einem wohlhabenden Land wie Österreich die Voraussetzungen ideal, um langfristig zu planen, Neues auszuprobieren und gesellschaftliche Transformation aktiv zu gestalten. Wohlstand könnte ein Sprungbrett für Innovation und Veränderung sein – stattdessen wird er zum Bollwerk gegen das Unbekannte.

Wohlstand ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Gestaltung. Damit Österreich auch in Zukunft lebenswert und wettbewerbsfähig bleibt, muss ein kultureller Wandel stattfinden: Weg von der Angst vor dem Risiko, hin zu einer Mentalität, die Veränderung als Chance begreift (ja, klingt abgedroschen, stimmt aber). Das bedeutet nicht, Leichtsinn zu fördern oder Sicherheitssysteme abzubauen – sondern bewusst Räume zu schaffen, in denen Scheitern nicht stigmatisiert, sondern als Teil des Fortschritts verstanden wird.

Es braucht eine Bildungslandschaft, die Neugier und Eigenverantwortung fördert, eine Wirtschaftspolitik, die Innovation belohnt, und eine politische Kultur, die nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Kurz: Eine Gesellschaft, die kapiert, dass Wohlstand nicht durch Besitz gesichert wird, sondern durch den Mut, ihn zu nutzen.

Anna Thalhammer

Anna Thalhammer

ist seit März 2023 Chefredakteurin des profil und seit 2025 auch Herausgeberin des Magazins. Davor war sie Chefreporterin bei der Tageszeitung „Die Presse“.