Leitartikel

Das Elon-Musk-Paradoxon

Der Verlust an Liberalismus ist weit beunruhigender als alles, was der Multimilliardär mit Twitter vorhat.

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Dass Linke (und auch viele Nichtlinke) Elon Musk nicht mögen, ist nachvollziehbar. Er ist der reichste Mensch der Welt, pfeift auf Gewerkschaften, hat schon mal Bernie Sanders beleidigt („Ich vergesse dauernd, dass Sie noch leben“), macht pubertär-sexistische Witze (Musk schlug vor, ein „Texas Institute for Technology and Science“ zu gründen, weil dessen Akronym „TITS“, auf Deutsch: Titten, lauten würde), und so weiter. Zum besseren Verständnis dieses Leitartikels: Ich mag Musk auch nicht.

Doch unter all den gängigen Gründen, Elon Musk, den neuen Eigentümer der Plattform Twitter, unsympathisch zu finden, hat sich einer eingeschlichen, der uns zu denken 
geben sollte: Musk sei ein „Free Speech Absolutist“, also ein Verfechter uneingeschränkter Redefreiheit. Das ist insofern falsch, als Musk auf Twitter selbstverständlich keine vom Strafgesetz verbotenen Inhalte zulassen will und außerdem ähnlich wie Facebook eine Kommission etablieren möchte, die entscheidet, was darüber hinaus gelöscht werden soll.

Das Verblüffende ist, dass jeder Verweis auf „Redefreiheit“ unter Progressiven mittlerweile als Codewort für illegitime Umtriebe angesehen wird; als Schutzschirm für rechtsextreme Inhalte; als Vorwand für das Absondern von Unsagbarem. Während die Rechte  genüsslich die Redefreiheit kidnappt, hat die neue, identitätspolitisch geprägte Linke dieses Grundrecht in ihrer Werteskala weit herabgestuft, irgendwo unterhalb ideologischer Benimmregeln.

Die wichtigste nichtstaatliche Institution in den USA, die sich (unter anderem) für Redefreiheit einsetzt, ist die 1920 gegründete American Civil Liberties Union (ACLU), die Amerikanische Bürgerrechtsunion. In ihrer Geschichte hat sie erfolgreich die Zensur von Büchern wie „Ulysses“ bekämpft (das Meisterwerk von James Joyce galt als „obszön“). Sie hat das Recht durchgesetzt, dass Zeugen Jehovas „antikatholische Schriften“ verteilen durften (diese galten als „Hassrede“). Manchmal kollidierte der Einsatz für Redefreiheit mit Anliegen der Linken, etwa als sich die Bürgerrechtsunion dafür stark machte, dass der Unternehmer Henry Ford Propaganda gegen Gewerkschaften verbreiten durfte. Doch jahrzehntelang war klar: Linke unterstützen die Bürgerrechtsunion im Kampf für das Recht auf Redefreiheit. So ging linker Liberalismus.

Die Rechte stand nie für Redefreiheit ein, die Neue Linke nun auch nicht mehr.

Jetzt haben sich die Wege getrennt. Die Bürgerrechtsunion macht nach wie vor das, was sie immer getan hat – Lobbyismus für das Recht auf freie Rede. Einer ihrer wichtigsten – und vor allem finanziell großzügigsten – Unterstützer ist seit Langem … Elon Musk, der „Free Speech Absolutist“.

Twitter-Eigentümer Musk steht unter besonderer Beobachtung der Linken, weil er angekündigt hat, die lebenslange Sperre des Accounts von Ex-Präsident Donald Trump aufheben zu wollen. Anthony D. Romero, Direktor der Bürgerrechtsunion, hat dazu eine eindeutige Stellungnahme abgegeben: Trump wieder twittern zu lassen, sei „die richtige Entscheidung“. Als Begründung gibt er an, Trump sei, „ob einem das gefällt oder nicht, eine der wichtigsten politischen Persönlichkeiten des Landes, und die Öffentlichkeit hat großes Interesse daran, seine Aussagen zu verfolgen.“ Wann immer Trump gegen Regeln verstößt, solle man einzelne Tweets löschen, empfiehlt die Bürgerrechtsorganisation. 

Dass die Bürgerrechtsunion Trump in irgendeiner Form nahesteht, kann man ausschließen. Sie hat bisher nach eigenen Angaben etwa 400 Anzeigen gegen ihn eingebracht. Doch sie verteidigt die Redefreiheit laut einem Statement, „auch wenn der Anlassfall unpopulär ist, und manchmal auch, wenn es niemand sonst tut“. Tja, wer fühlt sich noch zuständig? Paradoxerweise offenbar nur der provokante Einzelgänger Musk.

Die Redefreiheit war historisch kein Anliegen der Rechten und ist es in Wahrheit auch heute nicht. In ihrem Einflussbereich verbannen sie Bücher mit LGBT-Themen wegen „nicht altersgerechten Inhalten“ aus den Unterrichtsplänen. Doch weil jetzt auch die neuen Progressiven den Grundwert nicht mehr hochhalten wollen, gerät dieser unter die Räder. „Woke“ Linke wollen Literaturklassiker wie den antirassistischen Roman „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee wegen des Vorkommens des „N-Wortes“ aus Schulen verbannen. 

Weil sich der britische TV-Moderator Piers Morgan spöttisch als „transsexueller Pinguin“ definiert und verkleidet hat, verlangen Trans-Aktivisten, dass sein Twitter-Account gesperrt wird – und nehmen die Tatsache, dass dies nicht passiert, als Beweis dafür, dass Transphobie nicht ausreichend geahndet würde.

Zurück bleibt eine Gesellschaft, die in den Worten der „New York Times“ „entpluralisiert“ ist; in der die eine Seite nichts mehr von der anderen hören will. Und in der niemand mehr sieht, dass es einen Wert an sich darstellt, Äußerungen zuzulassen, auch wenn diese als beleidigend, schädlich oder verachtenswert empfunden werden, solange sie nicht das Strafrecht verletzen.

Die Rechte stand nie dafür ein, die Neue Linke nun auch nicht mehr. Dieser Verlust an Liberalismus ist weit beunruhigender als alles, was Musk vorhat.

PS: In guter pluralistischer profil-Tradition empfehle ich Ihnen den Kommentar meiner Kollegin Ingrid Brodnig zum selben Thema – aber mit gänzlich anderen Schlüssen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur