Leitartikel

Mut kann man machen

Unsere Gesellschaft hat ein Defizit an Mut. Aber braucht es den wirklich so dringend? Und wenn ja, welchen? Eine Mutmaßung.

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Die Politik? Mutlos. Die Gesellschaft? Auch. Sie und ich? Naja… Es ist wahr: Mut ist nicht die Charaktereigenschaft der Saison. Die Angst, womöglich missverstanden zu werden, ist größer als die Verwegenheit, zu sagen, was man für richtig hält. Besser die Klappe halten, als sich einem Shitstorm auszusetzen. Besser abschwächen, als für radikal gehalten zu werden. Besser so wie die im unmittelbaren Umfeld argumentieren, als sich auf unsicheres Terrain zu begeben. Besser die andere Seite attackieren als die eigene zu hinterfragen.

Große Ansagen gelten als verzichtbar und peinlich. Auch in der Politik. Das führt dazu, dass sich nur noch Leute dazu aufschwingen, die sowieso keinen Ruf zu verlieren haben. Donald Trump brüllt seit 2016 „Make America great again!“. Was sagt die Gegenseite? Eine MAGA-Kappe für jeden, der sich an Joe Bidens Slogan aus 2020 erinnern kann.

Eine Gesellschaft braucht – ebenso wie ein Individuum, ein Unternehmen oder eine beliebige Gruppe – Mut, um Neues zu wagen; und auch, um fest daran zu glauben, dass es gelingen wird. Üblicherweise werden die Mutigsten nach vorne gerückt, sie sollen zeigen, wie es geht, damit die weniger Mutigen sich hinterdrein wagen.

Aber das sagt sich so leicht: Mut. Was ist damit gemeint? Ein Beispiel.

Am 13. Mai 1993 dringt ein Mann mit Sturzhelm, bewaffnet mit einer Pistole und einem Sprengstoffgürtel, in einen Kindergarten im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine ein, wo gerade 21 Kinder im Alter von drei bis vier Jahren mit ihrer Pädagogin Salzteig kneten. Der Mann, der sich „Human Bomb“ (menschliche Bombe) nennt, nimmt alle als Geiseln und verlangt 100 Millionen Francs (15 Millionen Euro) und ein Fluchtauto. Wenige Stunden nach Beginn der Geiselnahme, die zwei Tage dauern wird, taucht der Bürgermeister von Neuilly-sur-Seine auf, der seit Kurzem gleichzeitig auch Budgetminister der Regierung ist. Sein Name: Nicolas Sarkozy, der spätere Staatspräsident.

Sarkozy bietet sich als Verhandler an, versucht die Eltern zu beruhigen und übernachtet auf einem Feldbett vor Ort. Insgesamt sieben Mal geht er in den Raum, in dem „Human Bomb“ die Geiseln gefangen hält und spricht mit dem Verbrecher. Dabei kann er ihn dazu überreden, insgesamt sieben Kinder freizulassen. Die Geiselnahme endet nach 46 Stunden mit der Erstürmung durch ein Spezialkommando. Der Täter wird erschossen, alle Geiseln bleiben unverletzt.

Was Sarkozy damals tat, war fraglos mutig. Und es machte den bis dahin kaum beachteten Minister landesweit bekannt. Ihm deshalb Hintergedanken zu unterstellen, wäre unfair, aber jedenfalls wusste das französische Wahlvolk, dass Sarkozy ein mutiger Mann war, als es ihn 2007 zum Präsidenten der Republik machte. Und Mut, so wusste Winston Churchill, wird „zu Recht als die erste der menschlichen Qualitäten erachtet, denn sie garantiert alle anderen“.

Ist das so? Nicht unbedingt. Gegen Sarkozy laufen seit dem Ende seiner Präsidentschaft – und der damit verbundenen strafrechtlichen Immunität – mehrere Strafverfahren. In der einen Affäre wurde er in zweiter Instanz wegen Korruption – nicht rechtskräftig – zu einem Jahr Haft ohne Bewährung verurteilt.

Die Wahrheit ist: Die Art von Mut, die Sarkozy bei der Geiselnahme gezeigt hat, nötigt Bewunderung ab, aber mit dem Beruf des Politikers hat sie so gar nichts zu tun. Das Gefühl, ein Politiker sei besser geeignet, Entscheidungen zu treffen, wenn er schon einmal bereit war, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, ist ein Relikt aus einer Zeit, als Premierminister und Präsidenten erstens alle Männer waren und zweitens vorzugsweise ehemalige Soldaten, oder besser noch Generäle. De Gaulle, Eisenhower, Churchill …

Könnte es sein, dass Mut ausgedient hat? In der modernen, vernetzten und in jeder Hinsicht komplexen Welt besteht die Hauptaufgabe einer Regierung meist darin, Risiken vorherzusehen, abzuschätzen und Vorkehrungen zu treffen. Scharfe Analyse, kühler Kopf, bloß kein Hasardspiel.

Spätestens an dieser Stelle muss die große Ausnahme genannt werden: der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Am 24. Februar 2022 musste der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenksyj die Entscheidung treffen, ob er im Namen seines Landes kapituliert, ob er ins sichere Ausland flüchtet – oder ob er das enorme persönliche und kollektive Risiko eingeht, den russischen Streitkräften militärischen Widerstand zu leisten. Der weitere Verlauf der Geschichte ist bekannt.

Was lernen wir daraus? Bei aller Bewunderung für Selenskyjs Handeln – nicht allzu viel. Nichts in Selenskyjs Biografie hätte die Prognose gestützt, dass der ehemalige Komödien-Schauspieler und politische Quereinsteiger den Mut aufbringt, einen Verteidigungskrieg gegen das scheinbar übermächtige Russland zu wagen. Und so eminent bedeutsam dieser Krieg für Europa und die Welt ist, so einzigartig ist er auch. Politikerinnen und Politiker nach dieser Art von Mut auszusuchen, wäre demnach erstens aussichtslos und zweitens nicht einmal sehr sinnvoll.

Die Welt braucht eine andere Art von Mut. Oder besser mehrere.

Hier kommt die erste: Der Mut, sich unbeliebt zu machen. Und zwar bei den eigenen Leuten. Wieder ein Beispiel: Liz Cheney, republikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus während Donald Trumps Amtszeit. Die Tochter des früheren – ebenfalls republikanischen – Vizepräsidenten Dick Cheney unterstützte Trumps Politik über die Dauer der Legislaturperiode, doch nachdem Trump mit seinen Lügen von der „gestohlenen Wahl“ dafür gesorgt hatte, dass am 6. Jänner 2021 eine gewalttätige Meute das Kapitol stürmte, sagte sich Cheney von ihm los. Sie stimmte als eine von nur zehn republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus für das Amtsenthebungsverfahren von Trump. Die Partei schlug zurück. Cheney wurde ausgeschlossen und verlor schließlich bei der nächsten Wahl ihr Mandat im Kongress.

Liz Cheney ist für ihr Verständnis von Recht und Gerechtigkeit aufgestanden und hat die Konsequenzen in Kauf genommen. Solche Leute sitzen oft zwischen allen Stühlen, werden als Verräter und Querulanten diffamiert und müssen ertragen, dass ihr Umfeld sie mobbt. Aber ihr Widerstand gegen die uniforme, scheinbar unanfechtbare Position der eigenen Seite ist enorm bedeutsam. Er kann bei vielen Menschen erst Erstaunen und dann ein Umdenken bewirken.

In einer Zeit, in der Alle alles tun, um möglichst viele „Likes" zu kriegen, ist der Mut, den es braucht, sich unbeliebt zu machen, nicht zu unterschätzen.

Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“, ausgesprochen am Höhepunkt der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, als die Politik, besonders die Parteien rechts der Mitte, einander in Alarmstimmung übertrafen, war unerhört und in Merkels CDU alles andere als populär. Er gab der Debatte einen neuen Dreh, viele Menschen – nein, bestimmt nicht alle, nicht einmal die Mehrheit – fanden in diesem Satz einen Ausweg aus der allgemeinen „Wie kriegen wir die Ausländer wieder raus?“-Stimmung.

Noch ein viel weniger beachtetes Beispiel: In Finnland setzte eine Gruppe von Grünen im Jahr 2008 ein beispielloses Umdenken in Gang. Sie nannte sich „Finnische Grüne für Wissenschaft und Technologie“ und erarbeitete eine Position zur Nuklearenergie. Schließlich, nach jahrelangem Debattieren und Abwägen, sprach sie sich für die Erzeugung von Atomstrom aus, um die CO2-Emissionen zu senken, und konterkarierte damit die jahrelange Anti-Atom-Haltung der Partei. Das Unglaubliche geschah: Die Außenseiter wurden erst belächelt, aber nach und nach gelang es ihnen, immer mehr Mitglieder zu überzeugen, und am Parteitag 2022 beschloss die Grüne Partei Finnlands, Atomstrom in ihrem Programm zu befürworten. Ein seltenes Happy End für mutige Dissidenten.

In einer Zeit, in der Alle alles tun, um möglichst viele „Likes“ zu kriegen, ist der Mut, den es braucht, sich – zumindest vorübergehend – unbeliebt zu machen, nicht zu unterschätzen. In österreichischen Parteien ist die Neigung zur Dissidenz eher unterdurchschnittlich ausgeprägt. Wer wagt es, „Wir schaffen das!“ zu sagen, etwa in der Klimapolitik? Lieber schiebt die Regierung ein Klimaschutzgesetz vor sich her, als einen mutigen Plan vorzulegen. (siehe dazu die Geschichte auf S. ..)

Die zweite Form von Mut, die dringend nötig ist, bringen Leute auf, die „Whistleblower“ genannt werden. Menschen, die irgendwo Teil eines Apparats sind und mitbekommen, dass rund um sie empörende Dinge passieren, und die sich mit diesen Informationen an eine Zeitung oder eine andere geeignete Stelle wenden. Ob sich Menschen das trauen, hängt nicht nur von ihnen selbst ab, sondern auch davon, wie mit Whistleblowern umgegangen wird, wenn sie enttarnt werden. Der Fall von Chelsea Manning etwa, vormals Bradley Manning, die als Soldat der US-Armee durch die Übermittlung von 750.000 Dokumenten an die Plattform WikiLeaks skandalöse Vorfälle aufgedeckt hat, ist ein abschreckendes Beispiel. Manning wurde 2013 wegen Spionage zunächst zu 35 Jahren Haft verurteilt, ehe der damalige US-Präsident Barack Obama die Strafe auf sieben Jahre reduzierte.

Anders als klassische Whistleblower wenden sich manche direkt von Unrecht Betroffene auch an die Justiz. Gerade im Fall von sexuellen Übergriffen erfordert das großen Mut. Die österreichische Kolumnistin Katia Wagner etwa warf ihrem ehemaligen Arbeitgeber, dem Herausgeber der Tageszeitung „Österreich“, öffentlich sexuelle Belästigung vor, was dieser als „frei erfunden“ bezeichnete. Wagner ging das Risiko ein, als Lügnerin und Verleumderin dazustehen, falls man ihr nicht glaubte. Für Wagner ging die Geschichte gut aus. Fellner wurde verurteilt.

Auch hier gilt: Ob sich Frauen mit solchen Erfahrungen an die Öffentlichkeit wagen, hängt stark davon ab, wie ihnen diese Öffentlichkeit begegnet.

Der mutige Akt ist eine individuelle Angelegenheit, doch er kann von der Gesellschaft befördert oder behindert werden. Mut kann man machen. Die Masse wird selten mutig sein, das muss sie auch gar nicht, doch sie kann den Mutigen beispringen und ihnen signalisieren, dass sie das Richtige getan haben. Zu lamentieren, dass es zu wenige mutige Politiker, Whistleblowerinnen und andere Unerschrockene gibt, ist feige. Mut kann man bis zu einem gewissen Grad auslagern, aber eben nicht zur Gänze.

Feiern wir die Mutigen? Verleihen wir ihnen Auszeichnungen? Allen, oder nur den Prominenten und denen, die uns nicht auf irgendeine Weise unangenehm sind?

Eine kurze Liste mutiger Menschen zum Selbsttest: Wie viele von ihnen kennen Sie? Finden Sie, dass man sie ausreichend unterstützt?

Alexei Nawalny. Julian Assange. Samar und Raif Badawi. Maria Kolesnikowa. Salman Rushdie. Bertha Zúñiga Cáceres.

Und noch eine Art von Mut, die fast schon paradox wirkt: Die westliche Gesellschaft hat zunehmend Angst davor, darauf zu bestehen, dass ihr System anderen überlegen ist. Ist es eine Fortsetzung des Kolonialismus auszusprechen, dass die Demokratie nicht-demokratischen Systemen vorzuziehen ist? Dass die universellen Menschenrechte überall Gültigkeit haben müssen und nicht bloß irgendein westliches Gimmick sind, das aus Rücksichtnahme gegenüber anderen Kulturen nicht für den Export bestimmt ist? Demokratie und Freiheit auf der Welt zu befördern, erforderte immer schon Mut. Wenn es auch Mut braucht, sich prinzipiell dafür auszusprechen, dann brauchen wir den eben auch.

Mut verändert sich, oder besser: Es gibt ihn in immer neuen Versionen, je nachdem, welche Risiken auftauchen. Die Menschen, die wir an die Spitze unseres Gemeinwesens stellen, brauchen uns nicht davon zu überzeugen, dass sie sich bewaffneten Feinden entgegenstellen würden, sondern eher einem aggressiven Mob auf Social Media. Und da kann es riskanter sein, einen ungeliebten Kompromiss zu verteidigen, als eine radikale Forderung zu erheben.

Von wegen „nur“ Mut.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur