Leitartikel

Progressive Antisemiten raus!

… aber die Linke wird in der Debatte um Palästina noch dringend gebraucht.

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Profil ist nicht allein, wenn es in seiner dieswöchigen Cover-Story erschrocken Antisemitismus aus eher unerwarteter Richtung konstatiert – von links nämlich. In so gut wie allen europäischen Ländern, in den USA und natürlich in Israel herrscht Fassungslosigkeit über die schändliche Verirrung unter manchen Leuten und Organisationen, die sich fortschrittlich nennen. Ausgerechnet im Lager der Progressiven, wo die Diskriminierungsseismografen so fein kalibriert sind, dass sie selbst feinstoffliche Mikroaggressionen aufzuspüren in der Lage sind, können viele ein Massaker an Juden nicht als Massaker an Juden anprangern, und dessen Urheberin, die Hamas, nicht als verachtenswerte Terrororganisation. Warum die Nadel des Wertekompasses mancher Linker verrücktspielt, erfahren Sie in der Cover-Strecke in diesem Heft, hier hingegen will ich zwei mögliche Reaktionen auf dieses moralisch-politische Debakel abwägen – und am Ende für eine der beiden plädieren.

Die eine lässt sich mit dem Titel eines Meinungs-Kommentars in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“ zusammenfassen. Er lautet: „Alles, was ich zur internationalen Linken sagen möchte, ist: Geht zur Hölle!“

Das ist eine nachvollziehbare Haltung. Sie gibt die Kooperation mit der Linken endgültig verloren.

Die andere Reaktion kam in Form eines offenen Briefs, ebenfalls veröffentlicht in „Haaretz“ und unterzeichnet von mehr als 60 israelischen Universitätslehrern, Politikerinnen und Aktivisten – und zwar ausdrücklich von solchen, die sich als links bezeichnen. Sie sind bestürzt über die „unangemessene Antwort mancher amerikanischer und europäischer Progressiver“, die mit ihrer „extremen moralischen Gefühllosigkeit“ gegen ihre eigenen Werte verstoßen haben. Doch die 60 linken Intellektuellen ziehen keinen Schlussstrich. Sie halten vielmehr fest, dass sie „mehr denn je die Unterstützung und die Solidarität der globalen Linken“ benötigen.

Damit haben sie recht. Das Verhalten vieler Linker in den vergangenen Wochen ist unverzeihlich, doch die Linke hat im Nahost-Konflikt historische Verdienste und trägt deshalb auch weiterhin Verantwortung.

Es gibt sie, die aufrechten Linken, die nicht in die Antisemitismus-Grube gefallen sind.

Seit Israels Eroberung der fortan besetzten Gebiete im Sechs-Tage-Krieg von 1967 war es die Linke, die darauf drängte, mit den Palästinensern Kompromisse und in weiterer Folge Frieden zu schließen und ihnen die Gründung eines Staates zu ermöglichen. Parteien, NGOs, Graswurzelbewegungen und Intellektuelle bildeten zusammen das „Friedenslager“. Unterstützt wurde es dabei jahrzehntelang von europäischen und amerikanischen Linken.

Aber jetzt (und eigentlich fast immer) ist der falsche Zeitpunkt für Nostalgie. Erschreckend viele Linke haben mit bösartiger Gleichgültigkeit oder offenem Israel-Hass jedes moralische und politische Kapital verspielt, und sie können es auch nicht zurückgewinnen. Jemand wie Jean-Luc Mélenchon, Chef der größten französischen Links-Partei „Unbeugsames Frankreich“, verstieg sich etwa zu dem Satz, die Parlamentspräsidentin Yaël Braun-Pivet würde bei ihrem Solidaritätsbesuch in Israel „in Tel Aviv campieren, um das Massaker zu unterstützen“ – mit „Massaker“ meinte er den Einsatz der israelischen Streitkräfte.

Tatsächlich hat die Linke den Nahost-Konflikt in den vergangenen Jahren weitgehend ignoriert. Dafür gibt es mehrere Gründe. Die linken Parteien in Israel selbst verloren rapide an Zustimmung, alle internationalen Friedensbemühungen waren zum Stillstand gekommen. Zudem erfasste ein neuer Trend die progressiven Bewegungen in Europa und den USA: Identitätsfragen und Diskriminierungen aller Art. „Nahost“ ist out. Und die großen Köpfe des Friedenslagers sind frustriert, in Rente oder tot. War es das?

Es wäre eine Katastrophe, und zwar für Israelis und Palästinenser – gleichermaßen. Die Pläne der Rechten sehen nur zwei Möglichkeiten vor: den Status quo oder die Annexion. Beides führt ins Desaster. Die Linke hingegen hat einen konsistenten Plan: die Teilung des Landes.

Und es gibt sie, die aufrechten Linken, die nicht in die Antisemitismus-Grube gefallen sind. Raphaël Glucksmann etwa, französischer Philosoph, EU-Abgeordneter der sozialdemokratischen Fraktion und Sohn des verstorbenen Philosophen André Glucksmann. Er schreibt in einem Kommentar für die französische Tageszeitung „Le Monde“ all das, was über die Hamas und ihre Verbrechen geschrieben werden muss, und er verurteilt die Umdeutungen des Massakers zum „Widerstand“. Dann wagt er einen Blick auf die Seite der Palästinenser und schreibt: „Es kann keine Welt entstehen aus Schulen und Moscheen, die zu Asche geworden sind, und aus dem Nichts an politischer Perspektive, das Israel seit Jahren pflegt.“

Die israelische Regierung hat bisher nicht erkennen lassen, was über die Vernichtung der Hamas hinaus ihre Absichten sind. Bald wird ein notwendiger Streit darüber entbrennen, was aus Gaza und dem Westjordanland werden soll. Der antisemitische Teil der Linken hat sich disqualifiziert, dabei mitzureden.

Das linke Friedenslager aber wird in der Debatte so dringend gebraucht werden wie lange nicht.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur