Robert Treichler: Warum nicht Bill?

Robert Treichler: Warum nicht Bill Clinton?

In der Folge von #MeToo wird Ex-US-Präsident Clinton an den Pranger gestellt. Zu Recht?

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Wenig ist kurzlebiger als eherne Gesetze von Sittlichkeit und Moral. Gerade mal zwei Jahrzehnte liegen zwischen der aktuellen #MeToo-Bewegung, die massenhaft Fälle von sexueller Gewalt an die Öffentlichkeit bringt, und dem Fall Bill Clinton (irreführend „Lewinsky-Affäre“ genannt), der in den 1990er-Jahren angebliches sexuelles Fehlverhalten des damaligen US-Präsidenten zum politischen Dauerthema machte.

Soll man bei Clinton heute noch von „angeblichem sexuellen Fehlverhalten“ sprechen?

Womit die wesentliche Frage bereits gestellt ist: Soll man bei Clinton heute noch von „angeblichem sexuellen Fehlverhalten“ sprechen? Dabei handelt es sich nicht um eine moraltheoretische Überlegung, sondern um eine aktuelle, sehr hitzige politische Debatte, die in den USA die beiden Lager gegeneinander führen: Die Rechte (Republikaner und „Breitbart“, das mediale Sprachrohr der populistischen, Trump-affinen Alt-Right-Bewegung) beschuldigt die Linke (Demokraten und sogenannte „Mainstream-Medien“), Bill Clinton bis heute gegen alle Anschuldigungen zu verteidigen, obwohl er in Wahrheit genau einer der Täter sei, wie sie von #MeToo angeprangert werden.

Nun muss man Angriffe dieser Rechten gegen ihre Lieblingsfeinde, Linke und Medien wahrlich nicht immer ernst nehmen. Allerdings ist die Attacke in diesem Fall nicht schlecht begründet.

Nach den Kriterien der #MeToo-Bewegung wäre Clinton als Täter entlarvt und seine Ächtung die unausweichliche politische Konsequenz.

Die Fakten: Bill Clinton hatte eine sexuelle Beziehung mit der Praktikantin Monica Lewinsky, die nach ihren Angaben einvernehmlich war. Weiters wurde er von Paula Jones, einer ehemaligen Staatsangestellten, verklagt, weil er sie in seiner Zeit als Gouverneur von Arkansas sexuell belästigt habe. Das Gericht wies ihre Forderung nach mehreren Millionen Dollar Schadenersatz ab, weil Jones nicht nachweisen konnte, dass ihr ein Schaden entstanden sei; Clinton zahlte auf dem Vergleichsweg 850.000 Dollar an Jones, eine Entschuldigung verweigerte er. Schließlich gab Juanita Broaddrick, die Leiterin eines Seniorenheims in Arkansas, in einer Befragung durch das FBI an, Clinton habe sie vergewaltigt. In einer vorherigen eidesstattlichen Erklärung hatte sie dies noch bestritten. Sie begründete die Änderung ihrer Aussage damit, dass sie ihren Fall erst nicht öffentlich machen wollte, gegenüber dem FBI jedoch keine Falschaussage machen konnte. Clinton bestritt Broaddricks Angaben, es kam zu keinem Verfahren.

Nach den Kriterien der #MeToo-Bewegung wäre Clinton als Täter entlarvt und seine Ächtung die unausweichliche politische Konsequenz. Schließlich gilt: Es braucht keine strafrechtliche Verurteilung, um einen Täter als solchen zu überführen, glaubhafte Angaben von Opfern reichen aus. Broaddricks Fall gilt als durchaus glaubhaft. Fünf Zeugen sagten, die damals 35-Jährige habe sich ihnen kurz nach der Tat anvertraut.

Warum kam Clinton dennoch davon? Warum wurde er von den Medien weitgehend verschont? Weil die linken Medien einen ihnen genehmen Politiker immer schützen, sagen „Breitbart“ und Co. Doch es gibt bessere Erklärungen.

Bill Clinton hatte den Bonus, ein emanzipierter Mann mit einer starken, öffentlichkeitswirksamen Ehefrau zu sein: Hillary Clinton. Er war nicht derselbe Typ Mann wie Donald Trump, der einen Satz wie „Grab them by the pussy“ in ein Mikrofon brunftet. Clintons konservative Widersacher versuchten, ihn als ehebrecherischen Lügner darzustellen, und konzentrierten ihre Argumentation auf den aussichtsreichsten Aspekt: Clintons sexuelle Beziehung zu Monica Lewinsky. Damit stand nicht die sexuelle Gewalt im Vordergrund, sondern juristisch gesehen die Falschaussage (Clinton hatte in dem Paula-Jones-Verfahren ausgesagt, er habe keine sexuelle Beziehung mit Lewinsky) und moralisch gesehen der Ehebruch. Clintons Verteidiger hielten dagegen, die Falschaussage sei vage und lässlich und alles andere Teil der Privatsphäre des Politikers. Die Ankläger des US-Präsidenten standen als eifernde Puritaner da, nicht als Anwälte der betroffenen Frauen.

Auch profil argumentierte damals so. War das auf empörende Weise nachsichtig gegenüber dem charismatischen Präsidenten? Vielleicht. Umgekehrt werden in der derzeitigen Atmosphäre allzu rasch Urteile gesprochen. Clinton wurde nie einer Sexualstraftat für schuldig befunden. Dass sein Verhalten gegenüber einigen Frauen nicht korrekt war, steht jedoch außer Zweifel. Darauf allerdings lag damals nicht der Fokus. Es galt die Moral von vor 20 Jahren.

Die für Gender-Fragen zuständige Kolumnistin der „New York Times“, Michelle Goldberg, kommt jetzt zu dem Schluss, Bill Clinton habe angesichts von Broaddricks Anschuldigungen „in anständiger Gesellschaft keinen Platz mehr“.

Die Berichterstattung über oft schlicht nicht beweisbare Vorwürfe bleibt eine schrecklich heikle Angelegenheit.

Sie warnt jedoch auch vor der „feministischen Vorschrift“, jeder Frau, die behauptet, sie sei Opfer sexueller Gewalt geworden, aus Prinzip Glauben zu schenken. Dies eröffne die Gelegenheit für (rechte) Propagandisten, die Medien gleichsam zu zwingen, auch dubiose, nur durch eine Aussage belegte Vorwürfe gegen unliebsame Politiker zu publizieren.

Die Berichterstattung über oft schlicht nicht beweisbare Vorwürfe bleibt eine schrecklich heikle Angelegenheit. Ein angebliches Opfer kann lügen, mehrere angebliche Opfer können Teil einer Machenschaft sein. Umgekehrt kann ein mächtiger Täter tatsächliche Opfer diskreditieren. Doch auch ohne die (moralische) Unschuldsvermutung zu verletzen, sollte man Bill Clinton besser nicht mehr nach Wien zum Life Ball einladen – als Stargast eines Fests der freudvollen Sexualität.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur