Robert Treichler
Leitartikel

Robert Treichler: Das V-Wort

Warum der Sieg der Ukraine das Ziel bleibt und was Leidenschaft dabei für eine Rolle spielt.

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Die Szene ist schlicht grandios: Die russische Botschaft in Berlin meldete dieser Tage eine sensationelle Nachricht an das Außenministerium in Moskau (und weiter an den Kreml). In Deutschland sei ein offener Brief veröffentlicht worden, der sich scharf gegen die geplanten Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine wende; verfasst und unterzeichnet von prominenten Intellektuellen. Doch ja, diese seien namentlich bekannt. Im Übrigen werde in dem Brief die Bevölkerung zur Unterschrift aufgefordert, und die Zahl der Signaturen übertreffe bei Weitem die einer anderen Petition, die dem deutschen Kanzler Unterstützung zusage.

Und so erfährt der Kreml zum bestmöglichen Zeitpunkt von seiner eigenen Botschaft, was es mit dieser Demokratie auf sich hat, die von der Ukraine und dem Westen so hartnäckig verteidigt wird. Hoffentlich präzisierte die Botschaft, dass die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner nicht inhaftiert wurden, sondern von Interview zu Interview gereicht werden. Ach ja, und die Regierung in Berlin denkt nicht einmal daran, auch nur das Ergebnis der Online-Abstimmung zu manipulieren.

It’s the democracy, Kreml!

Auch profil räumt der Debatte um Moral und Sinnhaftigkeit der Strategie des Westens, ausgelöst von dem offenen Brief rund um Alice Schwarzer, breiten Raum ein. Widerspruch muss sein, wenn existenzielle Entscheidungen getroffen werden. Zudem können Friedensbewegungen den Ausgang eines Krieges beeinflussen – historisches Beispiel: Vietnam.

Diesmal jedoch sieht es zumindest vorerst nicht danach aus. Der Ruf des offenen Briefs nach Verhandlungen und Frieden ist selbstverständlich (und scheitert nicht am Westen), hingegen ist der zentrale Vorschlag, der Ukraine die zur Selbstverteidigung nötigen Waffen vorzuenthalten, pure Grausamkeit in pazifistischem Gewand.

Tatsächlich scheinen die Waffenlieferungen auf längere Sicht gesichert. Der US-Kongress soll demnächst weitere 20 Milliarden Dollar für militärische Hilfe freigeben, und auch Israel legt angesichts irrwitziger russischer Provokationen („Hitler hatte jüdisches Blut“) seine Zurückhaltung in dieser Frage ab.

Es tut sich was. Die Biden-Administration verwendet neuerdings immer öfter das „V-Wort“: Victory. Würde sie das so kurz vor den wichtigen Midterm-Wahlen tun, wenn sie nicht Gründe zur Annahme hätte, ein Sieg sei zumindest wahrscheinlicher als eine Niederlage?

Ich habe an dieser Stelle vor drei Wochen skizziert, welche fatalen Konsequenzen ein Sieg Putins für die Ukraine und die Welt hätte. Es ist nun an der Zeit, den bisherigen – unerwarteten – Erfolg der ukrainischen Verteidiger anzuerkennen und einen optimistischen Blick in die Zukunft zu wagen. Nennen wir es beim Namen: ein Sieg der Ukraine.

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas wendet sich in seinem Essay „Krieg und Empörung“ gegen eine Erwartungshaltung, die in den Begriffen von Sieg und Niederlage formuliert wird. Kriege gegen eine Atommacht könnten nicht mehr im herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden. Ich halte ein wenig polemisch dagegen: Die Taliban sehen das anders.

Es mag vielleicht wahr sein, dass Russland am Ende nicht mit leeren Händen abziehen wird, aber jetzt haben die Ukraine und mit ihr das westliche Bündnis als einzig mögliches Ziel den Sieg vor Augen. Mit stoischer Abgeklärtheit und dem ein wenig spöttischen Habermas’schen Hinweis auf die „bekenntnishafte Rhetorik der Erschütterung“ von Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock verkennt der große Philosoph die Bedeutung der Leidenschaft und der Entschlossenheit aufseiten der Ukraine und ihrer Unterstützer.

Oder wie der Denker Slavoj Žižek es im profil-Interview formuliert: „Niemand scheint darüber froh zu sein, dass ein kleines, schwaches Land Widerstand gegen einen viel stärkeren Gegner leistet! Das ist aber ein Triumph!“

Leidenschaft bedeutet nicht Unüberlegtheit. Sie äußert sich auch in deutlichen Abstimmungen zugunsten militärischer Hilfe, in einem sechsten Sanktionspaket oder in Reisen von Amtsträgern nach Kyiv (Kiew). Sie beruht auf der Gewissheit, das Richtige zu tun. Und dem Ziel, dass, wenn dieser Krieg vorbei ist, alle Bürgerinnen und Bürger der Ukraine eine Petition gegen die eigene Regierung unterzeichnen können, wenn sie das möchten.

Noch einmal, mit der Bitte um Kenntnisnahme: It’s the democracy, Kreml!

Der Ukraine die Waffen vorzuenthalten, wäre pure Grausamkeit in pazifistischem Gewand.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur