Robert Treichler: Gegen die Autoritäre Internationale

Ein Aufruf zum Proamerikanismus. Aber zuerst eine Entschuldigung.

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Ich denke, es ist eine Entschuldigung fällig. Sie erinnern sich an die Nominierung der Juristin Amy Coney Barrett als Richterin am Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der USA? Es war die spektakulärste Entscheidung von US-Präsident Donald Trump kurz vor der Wahl. Nach dem Tod der Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg beeilte sich Trump, den vakanten Sitz an eine Person zu vergeben, die ihm ideologisch nahestand. Die Demokraten waren empört, weil der Präsident eine Nachfolgerin nominierte, anstatt dies seinem Nachfolger zu überlassen – oder im Falle einer Wiederwahl auf Anfang des kommenden Jahres zu verschieben.

Der Ärger war berechtigt, Trump verstieß gegen ungeschriebene Regeln. Doch was dann folgte, waren schwere Untergriffe gegen Coney Barrett. Sie wurde von Demokraten und auch in Medien als „Marionette“ von Donald Trump bezeichnet, ausgewählt allein, weil sie dem Präsidenten politisch gefügig sein würde, und zwar in seiner skandalösesten Mission: seine zu erwartende Niederlage gegen Joe Biden in einen Sieg zu verwandeln, indem er behauptet, es habe ein Wahlbetrug stattgefunden. Diese plumpe Lüge solle durch die Instanzen bis zum Supreme Court durchgefochten werden, und dort schließlich bestätigt werden – dank der 5:4-Mehrheit konservativ gesinnter Richter, und dem Zünglein an der Waage: Amy Coney Barrett.

Die 48-Jährige ist zweifelsfrei eine Konservative, ihre ablehnende Haltung zur Abtreibung etwa ist hinlänglich bekannt. Ihr jedoch zu unterstellen, sie würde einen Putsch legitimieren – und nichts anderes wäre die Umkehrung eines rechtmäßigen Wahlergebnisses – war  unfair.

Am Dienstag der abgelaufenen Woche hatte der Supreme Court über einen Antrag einer Gruppe von Republikanern zu urteilen, Bidens Wahlsieg in ihrem Bundesstaat zu annullieren. Die neun Richterinnen und Richter erledigten ihre Aufgabe schnörkellos: Mit einem einzigen Satz wiesen sie die Klage ab. Eine abweichende Meinung zum Urteil entfiel, weil niemand eine äußerte. Auch nicht Amy Coney Barrett. Sie, der Supreme Court und alle Gerichte entschieden unabhängig und korrekt.

In einer anderen Angelegenheit wurde Coney Barrett – zusammen mit vier ihrer Kollegen – hingegen bezichtigt, sie hätte tatsächlich ein ideologisches Urteil gefällt. „Standard“-Kommentator Hans Rauscher kritisierte dies unlängst unter dem Titel „Politisierte Religiosität“. Mit 5:4 Stimmen hatten die konservativen Richter entschieden, eine Anti-Corona-Maßnahme in New York für unzulässig zu erklären, die Gottesdienste (aller Konfessionen) mit über zehn Personen untersagte. Rauscher ortete ein Erstarken des „politischen Christentums“, denn das Urteil würde „die Ausübung religiöser Handlungen höher werten als die Sicherheit in einer Pandemie“.

Nun ist Coney Barrett zwar Mitglied einer einigermaßen reaktionären katholischen Sekte namens „People of Praise“, doch der Richtspruch war juristisch einwandfrei. Die gekippte Verordnung hatte keine Rücksicht darauf genommen, ob ein Gotteshaus wie die St. Patrick’s Cathedral 2500 Sitzplätze hat oder wie andere, winzige Bethäuser bloß 20.
Was nicht heißt, dass Rauschers Warnung, Coney Barretts Religiosität könne etwa bei Urteilen über Abtreibungsgesetze auf fundamentalistisch-politische Weise durchschlagen, unbegründet wäre.

Die vier Jahre Trump werden hier wie auch an anderen Stellen Spätfolgen zeitigen. Und dennoch: Der Westen – besonders Europa – könnte kaum eine größere Dummheit begehen, als jetzt weiter mit dem Finger auf die USA zu zeigen und ihnen die Jahre 2016 bis 2020 bei jeder Gelegenheit hämisch um die Ohren zu schlagen. Die freie Welt hatte ihre Führungsmacht verloren, und es war keine gute Zeit. Jetzt hat sie sie wieder, und wir sollten den Gegnern der Demokratie nicht die Freude machen, unsere Allianz selbst zu schwächen, indem wir darauf beharren, Amerika hätte wegen Trump keine Glaubwürdigkeit mehr oder dergleichen.

Die aufstrebenden Antidemokratien Russland und China und ihr Gefolge illiberaler, autoritärer Staaten und Regierungen haben in den vergangenen Jahren an Macht, Einfluss – und Geld – gewonnen. Die chinesische Währung Renminbi boomt, die Wachstumsprognosen für 2021 werden nach oben revidiert. China entdemokratisiert Hongkong, Russland kapert die Krim; vergiftet Alexei Nawalny … Die Vorkommnisse sind bekannt. Die Autoritäre Internationale präsentiert sich selbstbewusst als Alternative zum westlichen System und hat damit nicht wenig Erfolg.

Selbst während Trumps Amtszeit waren die USA der wichtigste Verbündete Europas gegen die Demokratie-Fresser. Wer sonst? Jetzt gibt es keine Ausrede mehr, sich vor einer engstmöglichen Allianz mit den USA zu drücken. Wer jetzt rumnörgelt – jaja, das Wahlmännersystem, die Zusammensetzung des Supreme Courts, die horrend teuren Wahlkämpfe, die bösen Digitalkonzerne … –, anstatt sich für die Demokratische Internationale starkzumachen, ist besser in einem Desinformations-Sweatshop in Luhansk aufgehoben als in einem politischen Amt.

Im US-Magazin „Foreign Affairs“ fordert Alexander Vindman, ehemaliger Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat, einen Demokratie-Gipfel mit den USA als Gastgeber. Die Demokratie steht global unter Druck, und die Demokraten in aller Welt müssen sie verteidigen. Mit den USA an der Spitze.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur