Robert Treichler: Es liegt an uns

Wir sind jetzt die Generation Coronavirus. Das kann auch eine gute Nachricht sein.

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Was wir derzeit erleben, werden wir nie vergessen. Eine weltweite Pandemie, die bisher über 200.000 Menschenleben gefordert hat, die unsere Lebensweise sabotiert, unsere Wirtschaft verkrüppelt und damit unseren Lebensstandard bedroht, hat niemand von uns gekannt. Bill Gates, der Milliardär und Philanthrop, schrieb in einem Blog-Eintrag, diese "erste moderne Pandemie" werde unsere Zeit prägen wie der Zweite Weltkrieg jene unserer (Ur-)Großeltern. Wir sind jetzt die Generation Coronavirus.

Es ist auf den ersten Blick nicht erstrebenswert, nach einer Seuche benannt zu werden, aber womit diese Chiffre nach dem Ende der Pandemie einmal assoziiert werden wird, ist noch keine ausgemachte Sache. Natürlich stehen zunächst das Leid der Familien, die Angehörige verloren haben, und die existenzielle wirtschaftliche Not vieler Menschen auf aller Welt im Vordergrund. Aber die Krankheit und ihre unmittelbaren und mittelbaren Folgen stellen nur das primäre Ereignis dar. Welche Werte werden daraus erwachsen, welche Lehren gezogen - und vor allem: Welches Lebensgefühl entsteht?

Im schlimmsten Fall fressen sich die Gefühle der Verwundbarkeit, des Ausgeliefertseins, der Kontaktangst und des Misstrauens in die Seele dieser Generation. Welche gesellschaftlichen und politischen Folgen das hat, kann man sich ausmalen. Aber so muss es nicht kommen.

Die grausame Pandemie kann etwas Gutes in uns - in der Gesellschaft, der Politik und natürlich auch individuell - auslösen, und es liegt an jedem selbst, das zu sehen und darauf aufmerksam zu machen. Es gibt Anzeichen dafür.

Eine Bedrohung, die alle betrifft, macht die üblichen Kriterien der Unterteilung der Gesellschaft in Alteingesessene, Zugewanderte erster, zweiter und x-ter Generation obsolet. Wer hier lebt, ist betroffen, und wer sich verantwortungsvoll verhält, ist ein guter Nachbar oder eine gute Nachbarin, egal ob er oder sie den Hürden-Marathon bis zur österreichischen Staatsbürgerschaft schon hinter sich gebracht hat. Plötzlich wird uns bewusst, dass Menschen, deren migrantische Herkunft meist in den Vordergrund gerückt wird, im unbedankten Hintergrund unser Gesundheitssystem am Laufen halten, und zwar auch dann, wenn es unangenehm oder gar gefährlich wird.

Auch unser Blick auf den sprichwörtlich sündteuren Moloch Sozialstaat hat sich geändert. Wer zahlt jetzt nicht gern Steuern für Intensivstationen und -betten, selbst wenn sie nur selten ausgelastet sind? Wer nörgelt an der Höhe von Sozialhilfen herum, wenn er gerade um Unterstützung beim Härtefallfonds, um Kurzarbeit, staatliche Besicherung von Krediten oder dergleichen angesucht hat? Viele, denen Sozialmaßnahmen oft überschießend erschienen, mussten nun solche Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen.

Die meisten Erfahrungen liegen noch vor uns. Sehen wir uns alle als Teil eines weltweiten Comebacks?

All die langweiligen Institutionen sind uns mit einem Mal ans Herz gewachsen: die Regierung, die Behörden, die Sozialversicherungsanstalten, die repräsentative Demokratie, die Marktwirtschaft -und überhaupt: das System! Sie alle kümmern sich um uns und unsere Gesundheit und bringen die Wirtschaft wieder in Schwung. Deshalb ist es übrigens auch sinnvoll, vernünftige Leute zu wählen, und nicht solche, die uns den Tipp geben, mal probeweise einen Schluck Desinfektionsmittel zu nehmen.

Schulkinder machen die Erfahrung, dass Lehrer Menschen sind, mit denen man gemeinsam versucht, eine Online-Verbindung aufzubauen, und die sich freuen, wenn es klappt.

Die meisten Erfahrungen liegen noch vor uns. Sehen wir uns alle als Teil eines weltweiten Comebacks? Treffen wir als Konsumenten Entscheidungen, um bewusst Unternehmen zu unterstützen und unser Geld dort auszugeben, wo es einen existenziellen Unterschied macht? Lassen wir die Schnäppchenjäger-Mentalität, die den individuellen Vorteil über alles stellt, beiseite? Hören wir uns ein Balkonkonzert an, weil wir froh sind, dass es im eigenen Bezirk Musiker gibt, und weil wir begriffen haben, wie wichtig das ist?

Irgendwann wird es einen Impfstoff geben. Wer wird ihn zuerst bekommen? Plädieren wir dafür, dass er in den Ländern verteilt wird, die zu diesem Zeitpunkt am stärksten bedroht sind? Oder sehen wir zu, wie Regierungen ihren Einfluss und ihre Macht dafür verwenden, zunächst ihre eigene Bevölkerung zu versorgen, egal ob die Notwendigkeiten anderes nahelegen?

Freuen wir uns, wenn unsere Regierung den Budgetposten "Unterstützung für internationale Organisationen" erhöht, weil wir die Impfaktionen der Weltgesundheitsorganisation schätzen gelernt haben? Oder ist das alles schrecklich naiv?

Als die Pest wütete, hängten viele ihre Arbeit an den Nagel und gaben sich rücksichtslos allen verfügbaren Lastern hin, da sie - zu Recht - annahmen, ohnehin bald von der Seuche dahingerafft zu werden. Das war angesichts des Todes von rund einem Drittel der Bevölkerung eine evidenzbasierte Vorgangsweise.

Heute können wir kollektiv ein erfolgreicheres Comeback schaffen, wenn wir weniger egoistisch handeln. Das wäre die evidenzbasierte Vorgangsweise im Jahr eins nach Ausbruch der Corona-Pandemie.

Aber vielleicht bleiben wir auch einfach die Generation mit den schlechten Frisuren und den Jogginghosen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur