Kommentar

Ist uns die Türkei willkommen?

Die Türkei könnte am 14. Mai Erdoğans Autokratie abwählen und zur Demokratie zurückkehren. Die logische Konsequenz wäre die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen.

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Vielleicht geschieht bei der Präsidentschaftswahl am 14. Mai (oder bei einer allfälligen Stichwahl zwei Wochen später) in der Türkei ein politisches Wunder. Recep Tayyip Erdoğan, seit 2014 Staatspräsident und davor mehr als ein Jahrzehnt Ministerpräsident, könnte abgewählt werden. Was bei einer demokratischen Wahl eigentlich ein denkbar gewöhnlicher Vorgang wäre, ist in der Türkei ein Ereignis, das ungläubig und auch ein wenig bange erwartet wird. Das Land hat sich in der Ära Erdoğan von einer Demokratie weit entfernt. Lag die Türkei im Demokratie-Index des britischen Magazins „Economist“ im Jahr 2012 noch auf Rang 88 (unter 167 Staaten), rutschte sie mittlerweile auf Rang 103 ab. Präsident Erdoğan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) kontrollieren so gut wie alle staatlichen Institutionen und fast alle Medien, und sie schrecken nicht davor zurück, missliebige Politiker, Journalisten oder einfache Bürger strafrechtlich verfolgen und inhaftieren zu lassen. Wegen „Präsidentenbeleidigung“ werden pro Jahr mehr als 30.000 Verfahren eingeleitet.

Eine Abwahl des Präsidenten ist in einem solchen System nicht vorgesehen. Ob Erdoğan eine Niederlage überhaupt akzeptieren würde, ist ungewiss. Das ist die Ausgangslage.

Dass ein Sieg des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu überhaupt möglich scheint, ist den sechs Parteien zu verdanken, die sich trotz ihrer ideologischen Unterschiede zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben, um in einem gemeinsamen Aufbäumen die Autokratie in der Türkei abzuwählen. Gelingt das, so wäre das ein Signal an die ganze Welt: Die Demokratie schlägt zurück. In den Händen der Türkinnen und Türken liegt am Wahltag eine riesige Chance – und entsprechend große Verantwortung.

Es wäre naiv, zu glauben, dass mit einem Regierungswechsel in Ankara alle Probleme zwischen der EU und der Türkei gelöst wären. Kılıçdaroğlu hat etwa im Wahlkampf versprochen, alle 3,6 Millionen Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei beherbergt werden, innerhalb von zwei Jahren nach Syrien zurückzuschicken. Mit Einwänden aus Brüssel ist zu rechnen.

Und dennoch: Das politische System der Türkei würde sich dem europäischen, westlichen wieder annähern. Das bedeutet für Europa Berechenbarkeit in den Beziehungen, ein gemeinsames Wertefundament, die Rückkehr eines starken Verbündeten in einer strategisch enorm wichtigen Region, ein verbessertes Verhältnis zu einem wichtigen Handelspartner, einen verlässlichen Partner bei der Terrorbekämpfung …

Moment mal! Kennen wir das nicht? Richtig. Das waren die Gründe dafür, dass die Europäische Union im Jahr 1999 der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten verliehen hat. 2005 begannen die Verhandlungen, doch zeitgleich auch die wechselseitige Entfremdung. Die Türkei unter Erdoğan wandte sich von den westlichen Werten ab, und in Europa – auch in Österreich – war es ein beliebter Sport rechter, christlich-konservativer und auch sozialdemokratischer Politiker, die Türkei runterzumachen. Sie wussten die Boulevard-Medien und laut Umfragen auch die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Offiziell wurde der Beitrittsprozess jedoch nie beendet.

Was würde jetzt passieren, wenn das verloren geglaubte Land am Bosporus es tatsächlich schafft, aus eigener Kraft die Autokratie hinter sich zu lassen, zur Demokratie zurückzufinden und sich den europäischen Werten zu verschreiben? Präsident in spe Kılıçdaroğlu verheimlicht nicht, was er vorhat: „Unser Hauptziel ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Natürlich wollen wir Teil der zivilisierten Welt sein“, sagte er bei einer Parteiveranstaltung im April.

Wie wird unsere Antwort lauten?

Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusagen, dass in Österreich und anderswo die alten Parolen – „Die Türkei hat in der EU nichts verloren!“ (FPÖ, 2005) – hervorgekramt werden, wenn eine türkische Regierung erneut einen Beitritt anstrebt.

Das wäre ein Fehler. Eine proeuropäisch gewandelte Türkei hätte unsere Unterstützung verdient, und am meisten wäre ihr geholfen, wenn sie ihren Bürgerinnen und Bürgern versprechen kann, dass am Horizont der EU-Beitritt wartet. Voraussetzung dafür ist, dass die demokratischen Institutionen der Türkei wiederhergestellt – und abgesichert – werden.

Inzwischen ist aus unserer Sicht noch ein gutes Argument dazugekommen: Das Durchschnittsalter der österreichischen Bevölkerung beträgt mehr als 43 Jahre, das der türkischen weniger als 33. Wir brauchen Arbeitskräfte. Da sind sie.

Am 14. Mai wählt die Türkei. Es geht um sehr viel. Europa sollte mitfiebern.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur