Robert Treichler: Wer die Konvention über Bord wirft

Innenminister Kickl hat nicht unrecht, wenn er vom Primat der Politik spricht. Das sollte uns alarmieren.

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Herbert Kickl zeichnet sich durch ein schroffes Wesen, einen listigen Blick und eine unverhüllte Kühnheit in der Argumentation aus. Kein anderes Mitglied der Bundesregierung hätte keck und provokant einen Satz wie diesen ausgesprochen: "Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht." Die Wirkung dieses Zitats, das im ORF-"Report"-Interview mit Susanne Schnabl fiel, war enorm. Der Innenminister hatte es im Zusammenhang mit ätzender Kritik an der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) formuliert und von "irgendwelchen seltsamen rechtlichen Konstruktionen" gesprochen, die "teilweise viele, viele Jahre alt" seien und mit denen er sich "anlegen" wolle.

Wenn also das Recht (die Europäische Menschenrechtskonvention) der Politik (Innenminister Kickl) folgen soll, wo landen wir dann? So genau wollte das niemand wissen. Bundespräsident Alexander Van der Bellen geißelte das Rütteln an der EMRK auf Twitter als "Aufkündigung des Grundkonsenses der Zweiten Republik", NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger kündigte einen Misstrauensantrag gegen den Innenminister an, und schließlich musste sich Kickl einem "klärenden Gespräch" mit Bundeskanzler Sebastian Kurz stellen. Überraschendes Ergebnis: Die Verfassung, die Grundprinzipien der Europäischen Union sowie die Grund- und Menschenrechte hätten "Gültigkeit" und seien "im Regierungsprogramm klar verankert".

Uff! Der Grundkonsens ist wiederhergestellt. Aber ist er das wirklich?

Kickl mag nicht Montesquieu sein, aber seine Thesen zu Recht und Politik sind zu fundamental und aus dem Mund eines Ministers auch zu bedeutungsvoll, als dass man leichtfertig darüber hinweggehen sollte.

An Kickls Satz ist erstens durchaus einiges Wahres dran, zweitens aber wird ihn nicht unbedingt freuen, was genau das ist.

Wahr ist nicht nur das banale Faktum, dass die Politik Gesetze ausarbeitet und beschließt, die dadurch zu Recht werden. Wahr ist vielmehr auch, dass die Politik in Ausnahmesituationen beschließen kann, sich über geltende Regeln hinwegzusetzen. Ein Beispiel, das Kickl kaum in den Kram passen kann, war die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, als entgegen den europäischen Dublin-Bestimmungen und auch entgegen nationalen Gesetzen Hunderttausenden Menschen die Durchreise von Ungarn über Österreich nach Deutschland gestattet wurde. Die FPÖ warf der Regierung deshalb Rechtsbruch vor. In Wahrheit nahm die Politik ihr Primat wahr.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist eine ungleich heiklere Angelegenheit. Sie gilt als unantastbarer Meilenstein unserer Zivilisation, als eine Art heilige (wenngleich natürlich säkulare) Schrift, die das friedliche Zusammenleben auf unserem Kontinent garantiert. Sie sollte entsprechend ernsthaft geachtet werden, wie Abraham Lincoln es im 19. Jahrhundert für die US-Verfassung verlangte: "Gepredigt von der Kanzel, proklamiert in gesetzgebenden Versammlungen, durchgesetzt in Gerichtshöfen."

Ist die EMRK tatsächlich tabu? Nicht in dem Sinn, dass ihr Wortlaut und dessen Bedeutung ein für alle Mal und unzweideutig festgelegt wären.

Ist die EMRK tatsächlich tabu? Nicht in dem Sinn, dass ihr Wortlaut und dessen Bedeutung ein für alle Mal und unzweideutig festgelegt wären. Ein Beispiel: Wem gewährt Artikel 12 ein Recht auf Eheschließung? Nur Paaren verschiedenen Geschlechts?

Innenminister Kickl will sich mit den Bestimmungen der EMRK "anlegen", die Abschiebungen von straffälligen Asylwerbern verhindern. Er wirft in eine Waagschale das (behauptete) Sicherheitsbedürfnis der Österreicher und in die andere das Recht straffälliger Asylwerber, nicht zwangsweise in Drittländer oder an Orte abgeschoben zu werden, wo ihnen Gefahr droht – und sieht den Zeiger zugunsten der Österreicher ausschlagen.

Kickl glaubt die Volksmeinung in dieser Frage auf seiner Seite, was er als politischen Auftrag sieht, das Recht zu verändern. Das erinnert an US-Präsident George W. Bush, der als Reaktion auf die Anschläge des 11. September 2001 und den folgenden "Krieg gegen den Terror" das in der Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in nationalen Gesetzen festgeschriebene Folterverbot aufweichte. Was unter Folter zu verstehen sei, wurde einfach neu definiert.

Herbert Kickl und seine politischen Verbündeten wie Italiens Innenminister Matteo Salvini oder auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán halten menschenrechtliche Normen für Hindernisse, die sie überwinden wollen. Das werden sie nicht auf so plumpe Weise versuchen, wie es Kickl im August 2015 in einer Presseaussendung tat, als er eine "Österreichische Menschenrechtskonvention" anstelle der EMRK forderte. Das war Oppositionsgebrüll.

Doch die EMRK neu zu interpretieren, abzuschwächen und auszuhöhlen, wo immer sie nationalistisch-völkischen Projekten entgegensteht, das kann die Politik versuchen. Und deshalb ist es verdammt ratsam, Kickls Ausspruch vom Primat der Politik nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Das Recht kann eine Zeit lang vieles verhindern und sich unlauteren Attacken widersetzen, aber es muss am Ende verteidigt und geschützt werden – und zwar politisch.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur