Robert Treichler: Der Terror, der vielleicht gar keiner war

Welche Botschaft senden wir an die Muslime?

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Was unterscheidet einen Massenmord mit über 80 Toten von einem Terroranschlag mit über 80 Toten? Vor Ort, für die Opfer, für die Angehörigen – nichts. Zu Redaktionsschluss dieser profil-Ausgabe war noch nicht klar, ob Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der 31 Jahre alte Täter, mit einem Lastwagen auf der Promenade des Anglais in Nizza Passanten zu Tode gefahren hatte, weil er sich als Dschihadist sah, oder ob der Mann aus Irrsinn oder persönlichen kriminellen Motiven gehandelt hat. Da Lahouaiej-Bouhlel von der Polizei erschossen wurde, wird man möglicherweise nie mit Sicherheit sagen können, was ihn wirklich zu der Tat getrieben hat.

Doch wenn der Begriff „Terror“ erst einmal in den Nachrichten aufgetaucht ist, dann wird damit Politik gemacht. Unheilvolle, gefährliche Politik.

Europa verhält sich bisher angesichts des (vermeintlichen) Terrors alles in allem vorbildlich.

In den USA trat Newt Gingrich vor die Medien. Gingrich war in den 1990er-Jahren eine große Nummer in der Republikanischen Partei, vergangene Woche hatte sich der 73-Jährige sogar noch – vergeblich – Hoffnungen gemacht, von Donald Trump zum Vizepräsidentschaftskandidaten ernannt zu werden. Also sagte er auch etwas Griffiges zum Thema Terror, nämlich das: „Die westliche Zivilisation ist im Krieg. Wir sollten ganz ehrlich jeden hier, der einen muslimischen Hintergrund hat, testen, und wenn er an die Scharia glaubt, sollte man ihn deportieren.“

So hätte die französische Regierung auch reagieren können. Frankreich ist vom Terror hart getroffen: erst der Anschlag auf die Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ und auf einen jüdischen Supermarkt, dann die Serienattacken des 13. November 2015, jetzt das Massaker von Nizza. Sowohl Staatspräsident François Hollande als auch Premier Manuel Valls sprachen von Terror und was sie dagegen zu tun gedächten: Verlängerung des Ausnahmezustands; verstärkte militärische Einsätze gegen den „Islamischen Staat“ in dessen sogenannten Kalifat in Syrien und im Irak.

Die anderen Staatskanzleien sandten Depeschen der Solidarität und sicherten Unterstützung zu. Kein Wort gegen Muslime. Europa verhält sich bisher angesichts des (vermeintlichen) Terrors alles in allem vorbildlich. Wir müssen dafür sorgen, dass das so bleibt.

Was Politiker wie Gingrich – und natürlich auch Präsidentschaftskandidat Donald Trump – verlangen, ist die Aufgabe von Bürgerrechten für einen bestimmten Teil der Bevölkerung, nämlich die Muslime.

Die Maßnahmen von Polizei, Militär und Geheimdiensten in Frankreich sind im Rahmen des Ausnahmezustands vertretbar. Die Freiheit der Religionsausübung und der Meinungsäußerung wurden nicht eingeschränkt.

Es reicht, sich auszumalen, wie die Reaktionen auf islamistischen oder auch nur mutmaßlich islamistischen Terror aussähen, wenn Marine Le Pen, Frauke Petry und Heinz-Christian Strache an der Macht wären. Merke: Die staatsbürgerliche Pflicht, sich für vernünftige Terrorbekämpfung starkzumachen, beginnt in der Wahlzelle.

Der größte Teil der Öffentlichkeit widersteht der Versuchung, Muslime und islamistisch motivierten Terror gleichzusetzen. Auch das muss so bleiben. Nichts deutet darauf hin, dass mehr als eine verschwindend kleine Gruppe europäischer Muslime sich mit den Attentaten, die der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) zugeschrieben werden, identifizieren. Der IS ist weder Sprachrohr noch bewaffneter Arm der Muslime.

Was Politiker wie Gingrich – und natürlich auch Präsidentschaftskandidat Donald Trump – verlangen, ist die Aufgabe von Bürgerrechten für einen bestimmten Teil der Bevölkerung, nämlich die Muslime. „An die Scharia zu glauben“, kann vieles bedeuten. Es kann uns nicht sympathisch sein, denn Teile der Scharia, des islamischen Rechts, widersprechen den allgemeinen Menschenrechten.

Doch ein Muslim darf in einer liberalen Demokratie ebenso von einem Gottesstaat träumen wie ein Anarchist von der Anarchie oder ein Monarchist von der Thronbesteigung Karl Habsburgs. Träumen, glauben und denken dürfen keine Delikte sein.

Wie kann man Muslime davon überzeugen, dass der liberale, demokratische Rechtsstaat einem Scharia-Staat vorzuziehen ist?

Leute wie Gingrich wollen Muslime unter Generalverdacht stellen. Rechtspopulisten aller Länder würden da begeistert mitmachen. Gesinnungstests würden potenzielle Terroristen nicht stören, wohl aber harmlose Muslime von ihrem Staat entfremden. Das ist eine der größten Gefahren jedes neuerlichen – tatsächlichen oder vermeintlichen – Terroranschlags.

Wie kann man Muslime davon überzeugen, dass der liberale, demokratische Rechtsstaat einem Scharia-Staat vorzuziehen ist? Sicher nicht durch Androhung von Deportation. Besser, indem Muslimen gerade nach Anschlägen deutlich signalisiert wird, dass sie wegen ihrer Religionszugehörigkeit keine Diskriminierung zu befürchten haben, weil die Menschenrechte bei uns uneingeschränkt Geltung haben.

Wir wissen, dass manche Gruppen (militante Salafisten) und Staaten (Saudi-Arabien) daran arbeiten, die europäischen Muslime zu radikalisieren. Dem müssen europäische Regierungen und die Gesellschaft etwas entgegensetzen. Das können gesetzliche Vorschriften sein, behördliche Kontrollen, aber auch eine groß angelegte Kampagne, bei der Muslimen folgende Frage gestellt wird: „Nennen Sie drei Staaten auf der Welt, in denen Sie selbst frei und ohne Folgen entscheiden können, ob sie als Sunnit oder als Schiit, als Strenggläubiger oder als Gottloser leben wollen.“

Wetten, alle drei Staaten sind westliche Demokratien?

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur