Robert Treichler

Robert Treichler: Und falls Putin doch gewinnt?

Es ist ein alarmierendes Szenario. Und es führt zur derzeit wichtigsten Frage: Haben wir alles versucht, um das zu verhindern?

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Ich fürchte, das ist ein düsterer Kommentar. Er beschreibt ein Szenario, mit dem wir uns alle beschäftigen müssen, denn es ist leider verdammt realistisch: Was passiert, wenn Putin den Ukraine-Krieg gewinnt?

Ein weitverbreiteter Irrtum besteht in der Annahme, dass die Offensive der russischen Streitkräfte im Osten der Ukraine bedeuten könnte, dass Putin sich mit der Eroberung des Ostens des Landes zufriedengeben könnte, und dass dann, endlich, Frieden möglich sei. Was für ein Frieden wäre das? Denkt jemand an die Bevölkerung der Ostukraine, an die Leute in Mariupol zum Beispiel, die in Hinkunft unter dem Regime des Mannes leben müssten, der ihre Stadt bombardieren und ihre Nachbarn und Verwandten niedermetzeln ließ? Oder wird man „ukrainische Ukrainer“ von russischstämmigen Ukrainern trennen, und Erstere dürfen in den Westen der Ukraine übersiedeln? Ethnische Säuberungen in Europa im Jahr 2022? Ob ein solcher „Frieden“ etwas anderes wäre als der Beginn eines lange währenden, bald schwelenden, bald aufflackernden Krieges, ist die eine Frage.

Die andere sollte uns mindestens ebenso Bange machen: Was werden die Lehren sein, die Wladimir Putin und mit ihm die ganze Welt aus seinem Sieg ziehen wird? Vorab so viel: Eine ist schlimmer als die andere.Wladimir Wladimirowitsch Putin wird den Eindruck gewonnen haben – nein, noch ärger: die Gewissheit! –, dass ein Angriffskrieg zum Ziel führt; auch in Europa; auch gegen den gesamten Westen.

Er wird die Erfahrung gemacht haben, dass der Westen zwar mit großem Getöse Sanktionen verhängt, aber am Ende doch nur solche, die der westlichen Bevölkerung erträglich erscheinen und die jeweilige Regierung nicht in die Gefahr eines Popularitätsverlustes bringen. Putin wird sagen können, dass auch die elftgrößte Volkswirtschaft der Welt die geballte wirtschaftliche Faust der G7-Staaten wegstecken kann; mit Schmerzen zwar, aber eben doch.

Er wird die Anschuldigungen, Kriegsverbrechen zu verantworten zu haben, gehört und weggewischt haben. Er wird aus der Ferne mitverfolgt haben, wie Beweise gegen ihn und die Befehlshaber seiner Streitkräfte gesammelt wurden, und er wird sich im Selbstbewusstsein suhlen, sich dadurch nicht von seiner rücksichtslosen Kriegsführung abbringen haben zu lassen.

All das wird Putin in seinem ungeschriebenen Brevier autokratischer Machtausübung festhalten, und diese teuflischen Weisheiten werden unter Potentaten, die ähnlich denken wie er, die Runde machen.

Der Satz von US-Präsident Joe Biden „Um Himmels willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“ wird zum Spottvers auf die Hilflosigkeit des vermeintlich mächtigsten Mannes der Welt und seiner Supermacht geraten. Alle Warnungen und Drohungen des Westens werden der Lächerlichkeit preisgegeben sein. Die Ukraine wäre am Ende das Opfer, das lange um Hilfe gerufen hat, aber zu wenig davon bekommen hat, und das zu spät. Das menschliche Leid wird grenzenlos sein und dazu noch letztlich vergeblich.

 

Die Staaten, die sich bedroht fühlen, werden aus Putins Sieg lernen, dass jedes Land Atomwaffen braucht, um sicher zu sein. Seine Atomwaffen abgegeben zu haben, machte die Ukraine verwundbar; welche zu besitzen, macht Russland unangreifbar.

So sehen die Folgen eines Sieges von Wladimir Putin aus. Es geht nicht darum, irgendeiner überkandidelten Idee von westlicher Überlegenheit nachzutrauern, sondern um das Entsetzen angesichts eines Wiedererstarkens des archaischen Prinzips, dass die Starken und Rücksichtslosen tun können, was sie wollen. 

Das ist das düstere Szenario von Putins Sieg. Vieles deutet derzeit darauf hin, dass es Realität wird. Das führt uns zur derzeit wichtigsten Frage: Werden wir, die westlichen Staaten und ihre Repräsentanten, sagen können, wir hätten alles versucht, um das zu verhindern?

Wenn man dieses Szenario nämlich richtig liest, ist es ein Aufruf, dass es nicht so weit kommen darf. Es wäre die Aufgabe unserer Staats- und Regierungschefs, der Öffentlichkeit zu erklären, was auf dem Spiel steht; und dass die Kosten eines Wirtschaftsboykotts gegenüber den Kosten, die eine solche neue Weltordnung auf Basis des Faustrechts mit sich bringt, verschwindend gering sind.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur