Robert Treichler: Es ist Unsinn, sagt die Vernunft

Es ist, was es ist, sagen Boris Johnson, Donald Trump und alle, die auf sie pfeifen.

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Wenn Sie diesen Leitartikel lesen, hat der britische Premier Boris Johnson Westminster als triumphierender Sieger oder als gedemütigter Verlierer verlassen. Bei Redaktionsschluss dieser profil-Ausgabe (Freitagnacht) ist der Ausgang noch ungewiss. Stimmt eine Mehrheit der Abgeordneten für den von Johnson mit der EU ausverhandelten Austrittsvertrag, dann hat der schillernd-provokante Tory sein Versprechen eingelöst und den Brexit geschafft. Verliert er das Votum, schließt er nahtlos an die Serie von Desastern seiner Vorgängerin Theresa May an. Sie war mit ihrem Vertrag drei Mal im Unterhaus abgeblitzt.

Nehmen wir mal an, alle Konservativen haben sich hinter den Deal gestellt, und Johnson hat die noch fehlenden Stimmen irgendwie zusammengekratzt. Ist er dann ein Held? Alles andere als das. Eine der bedeutendsten politischen Entscheidungen der britischen Nachkriegsgeschichte wurde dann auf eine Weise getroffen, als ginge es um die Aufstellung des englischen Cricket-Teams. Halt, nein! Niemals würde Coach Chris Silverwood dies auf so verantwortungslose Weise tun.

Der Brexit wurde mit falschen Versprechen (350 Millionen Pfund pro Woche für die nationale Gesundheitsversorgung!) durch ein Referendum geboxt, Johnson verordnete dem Parlament widerrechtlich eine Pause, um es an einem Einspruch gegen seinen Plan für einen Austritt ohne Deal zu hindern (was das Parlament schließlich vereitelte), und nun schubst ein Deal, hinter dem in Wahrheit eine einzige Partei steht (und eine arschknappe Mehrheit im Unterhaus), das Vereinigte Königreich aus der EU. Wobei ein wesentliches Argument (auch für die EU), für den Deal zu stimmen, die Angst ist: Andernfalls droht als einzige Alternative ein harter Brexit, also ein Ausstieg wie aus einem fahrenden Londoner Taxi. Mit blauen Flecken wäre es dabei nicht getan.

Lügen, Tricks und Erpressung. Und ein Boris mit einem Grinsen im Gesicht?

Ob der Ausstieg nun dank Mini-Mehrheit fixiert wird oder sich per Unterlassung ereignet – so sollte nicht Politik gemacht werden. Die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs (und die Irlands und der EU) hat das Chaos und die verwirrenden Vorschläge mittlerweile so satt, dass ein Ende all dessen wie eine Erlösung erscheint. Möglich, dass auch der Plafond des Absurden erreicht worden ist. Außenminister Dominic Raab frohlockte allen Ernstes, der Vorteil für Nordirland sei nun, dass es „reibungslosen Zugang zum Gemeinsamen Markt (der EU)“ habe. Prima, nicht? Ohne Brexit könnte das gesamte Vereinigte Königreich dieses Privileg behalten.

Was, wenn die auf Ausgleich und Umsicht bedachten Prozesse definitiv nicht erwünscht sind, wohl aber der leichtsinnige, spektakuläre Paukenschlag?

Ich fühle mich jetzt gleich schrecklich altmodisch. So wie wenn ich meinen Teenager-Sohn zur Räson mahne, weil nämlich: Die ganze Nacht hindurch Fortnite zu spielen, ist gaga!

Also, es muss sein: Wir sollten von Politikern verlangen, eine uralte, langweilige, mühsame und geilen Disruptionen möglicherweise im Weg stehende Tugend zu beherzigen – Vernunft!

Wie ging das noch mal? Zum Beispiel so: Als das Vereinigte Königreich 1973 der EU (damals: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, EWG) beitrat, fand zwei Jahre später eine Volksabstimmung statt. Das Volk wusste also genau, worum es ging. Die drei großen Parteien waren mehrheitlich dafür (Labour gespalten). Am Ende stimmten 64 Prozent für den Verbleib. Außerdem siegte das Ja in England, Wales und Schottland, nur in Nordirland blieben die Befürworter mit 47 Prozent in der Minderheit. Mit einer solchen Vorgangsweise kann man eine epochale Entscheidung verantworten. Sagt die Vernunft.

Hier kommt der Twist: Was, wenn nicht die Vernunft gewählt wurde, sondern das Hasard, personifiziert durch Boris Johnson, Donald Trump, Jair Bolsonaro und wie sie alle heißen? Was, wenn die auf Ausgleich und Umsicht bedachten Prozesse definitiv nicht erwünscht sind, wohl aber der leichtsinnige, spektakuläre Paukenschlag? Was, wenn Donald Trumps Brief an seinen türkischen Widerpart Recep Tayyip Erdoğan, verfasst im Stil einer Auseinandersetzung mit dem Nachbarn über den Gartenzaun hinweg („Seien Sie kein harter Kerl! Seien Sie kein Narr!“), die Öffentlichkeit zwar ein klein wenig peinlich berührt, aber als willkommene Abkehr von diplomatischen Floskeln gesehen wird? Warum nicht mal Politik machen, die zum Soundtrack der Industrial-Band Einstürzende Neubauten passt?

Schluss mit einengender Rücksichtnahme auf, sagen wir mal, die kurdische Bevölkerung in Nordsyrien; Schluss mit dem Abwägen von drohenden Nebeneffekten beim Aufkündigen eines heiklen Atomdeals; Schluss mit dem Suchen nach tragfähigen Koalitionen im Unterhaus; Schluss mit dem Einbeziehen lästiger Prognosen von Wissenschaftern; Schluss mit dem zeitraubenden Versuch, Realität und politische Wünsche miteinander in Einklang zu bringen. So was befreit!

Die Vernunft kann darauf nur sagen: „Tja, dann. Auch Irrwitz kann etwas erreichen. In manchen Branchen gar nicht wenig. Als Staatsdoktrin erscheint sie auf Dauer ungeeignet.“ Aber die Vernunft spricht leise. Gehört wird sie erst wieder, wenn auf den Krach Betroffenheit folgt.

[email protected] Twitter: @robtreichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur