Kolumne

Wirklich woke

Harmonie ist etwas Schönes. Wenn man nichts will. Wer hingegen streitet, bemüht sich um Besseres.

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Die Sache mit der Ruhe und dem Frieden kann man sich am besten mit einer Standardszene aus dem wirklichen Leben vorstellen. Und damit das noch besser geht, denken wir beim folgenden Dialog, dass ihn Hans Moser und Annie Rosar sprechen. (Wer nicht mehr weiß, wer das war: Bildungslücke. Googeln, Film streamen, danke.) Er, der Hans, regt sich gerade furchtbar auf, wegen irgendwas, ist eigentlich auch wurscht. Sie, die Annie, sagt so was wie: „Franzl, reg dich doch bitte nicht so auf!“ Worauf er, der Moser, ruft: „Das regt mich auf, dass ich mich nicht aufregen soll!“

Ganz ehrlich: Ich bin Team Moser. Mich regt so was auch auf, wenn Leute abwiegeln und sagen: Reg dich doch nicht auf. Warum sagen sie eigentlich nicht gleich die ganze Wahrheit: Es passt mir nicht, dass du dich jetzt aufregst. Es passt mir noch nicht mal, dass dir etwas auffällt, das nicht passt. Ich will meine Ruhe, meinen Frieden. Oder kurz: Es ist mir wurscht.

Harmonie verblödet – das ist ein harter Satz, der aber seine Berechtigung hat. Damit ist ja auch nicht gemeint, dass man Angriffskriege anzetteln soll oder den Neighborhood Bully machen. Der Streit ist wichtig, weil er die Ruhe dort stört, wo sie am empfindlichsten ist: bei der Selbstgerechtigkeit und Ignoranz. Das gilt, wir haben es gelernt, in Zeiten wie diesen ganz besonders dort, wo Unrecht geschieht, bei dem niemand verlangen darf, dass man Ruhe gibt. Im Ukraine-Krieg etwa, ja, auch bei der Klimagerechtigkeit, die den armen Süden mehr trifft als alle anderen, bei der Frage, ob wir es ignorieren, dass alte Menschen in Pflegeheimen dahinsiechen, oder bei der Frage, ob wir wegschauen, wenn jemand in der Nachbarwohnung oder der U-Bahn geprügelt wird, immer öfter halb oder ganz zu Tode übrigens. Diese Harmonie hat bereits ihre verblödende, gefährliche Wirkung getan. Es braucht auch keinen Betriebsfrieden, wie es so heimtückisch heißt, wenn Kolleginnen oder Kollegen gemobbt werden, untereinander oder von der Führung. Harmonie bringt nichts, wenn Leute andere Menschen gefährden und das irrtümlicherweise für Freiheit halten. Oder, mit Marie von Ebner-Eschenbach: „Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.“

Wir sehen also: Harmoniesucht verbietet sich schon aus Selbstschutz. Denn wer bis drei zählen kann, weiß, dass die, die nur ihre Ruhe haben wollen, letztlich gründlich um diese gebracht werden. Bei den Nazis waren es eben nicht nur die Unmenschen, die Sadisten, offenen Bösewichte, die Land und Leute in den Untergang getrieben haben, sondern vor allen Dingen all jene, die ihren Frieden haben wollten. Die Ruhestörer wurden weggesperrt und umgebracht. Das ging aber nur, weil die Harmoniker sich und anderem immer wieder gesagt haben, es sei eh nicht so schlimm, wie diese Unruhestifter behaupten. Das stimmt. Es war schlimmer. Friedhofsruhe.

Es gibt ein Recht auf Empörung, Aufstand und Erregung, überall dort, wo dieses Recht gewaltsam infrage gestellt oder gar bedroht wird. Dann gilt: „Kein Pardon für die Abergläubischen, die Fanatiker, die Unwissenden, die Toren, die Bösen und die Tyrannen“, wie es der französische Chefaufklärer Denis Diderot zur Mitte des 18. Jahrhunderts an seinen Kumpel Voltaire schrieb. Dann müssen die Fetzen fliegen für die Freiheit, gegen die Dummheit, gegen die Einschränkung, gegen die, denen alles wurscht ist.

Unsere Errungenschaften der letzten Jahrhunderte haben wir nicht im Lotto gewonnen, sondern in der Auseinandersetzung mit denen, die ihre Ruhe wollten, ihre alte Macht, ihre Vorrechte und Privilegien und Dienstposten auf Kosten anderer Leute. Innovationen, hat der große Joseph Schumpeter gesagt, sind „schöpferische Zerstörungen“. Das heißt, dass durch die Auseinandersetzung etwas Neues und Besseres entsteht. Die Welt gehört denen, die neugierig sind – und woke.

Da sieht man es: Einige, die glauben, sie seien woke, die sind es nicht, im Gegenteil. Woke heißt nicht: „Ich will nicht, dass du mir widersprichst, sonst schreie ich hier so lange rum, bis du nachgibst.“ Das ist nur ein Übersetzungsfehler. Woke heißt wachsam, aufmerksam. Das ist gut, weil man was lernen kann. Neugierig. Nicht starrsinnig. Neugierig sein, das ist erwachsen. Falsche Wokeness hingegen ist kindisch, unduldsam, empört sich, damit die anderen zuhören, löst aber kein Problem. Echter Streit hält was aus, auch Falsches, und arbeitet an Problemlösungen.

Das müssen wir lernen: uns gegenseitig aushalten, auch wenn es manchmal wehtut. Weil das Gegenteil davon unerträglich ist: Unterwerfung und Friedhofsruhe. Es gibt vieles, für das wir streiten müssen. Krempelt schon mal die Ärmel hoch. Wir brauchen noch mehr Unruhestifterinnen und Ruhestörer. Dann, vielleicht, wird das mit dem echten Frieden und der wirklichen Demokratie auch noch was.

Wolf  Lotter

Wolf Lotter

ist Autor und Journalist und schreibt einmal monatlich eine Kolumne für profil, wo er von 1993 bis 1998 Redakteur war.