Meinung

Der Held

Elfriede Hammerl über Wolodymyr Selenskyjs Tapferkeit und über verblasst geglaubte Bilder von Kerlen mit ihrem Kriegsgerät.

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So ein Krieg erfordert viel Tapferkeit. Zunächst: die Tapferkeit vor dem Feind. Der Feind ist klar, er heißt Russland. Russland hat die Ukraine überfallen, und zu unser aller Glück hat sich die tapfere Ukraine nicht einfach ergeben. Wäre sie widerstandslos untergegangen, hätte Russland wahrscheinlich weitergemacht mit der Vereinnahmung anderer Länder, der Länder zumindest, die einmal zum großen Sowjetreich gehört haben, dessen Reinstallation Putins Bestreben ist. Wie es genau gekommen wäre, wird man nie wissen, weil die Ukraine Putin ja einen Riegel vorgeschoben hat. Jetzt hoffen wir, dass der Riegel hält. So geht die Erzählung, mit der wir uns durch die Geschehnisse navigieren, und diese Erzählung hat einen Helden.

Er steht an der Spitze der tapferen ukrainischen Gegenwehr: Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich vom Comedian zum Kriegshelden gewandelt hat. Die Amerikaner hätten ihn aus Kiew herausgeholt, wenn er das gewollt hätte, aber er hat geantwortet, dass er Munition brauche, keine Mitfahrgelegenheit. Ein tapferer Satz. Hätte man an seiner Stelle ebenso gehandelt oder der Versuchung nachgegeben, sich in Sicherheit zu bringen? Man stellt sich gerne vor, dass ER nicht einmal versucht war, den Kriegsschauplatz zu verlassen.

Wie und warum wird einer zum Helden? Weil er sich kraft seines Amtes moralisch verpflichtet fühlt, die Verantwortung für einen Krieg auf seine Schultern zu laden, oder weil er aus einer Rolle, in die er hineingeraten ist, ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskann? Und was wäre geschehen, wenn Wolodymyr Selenskyj sich doch ins sichere Ausland abgesetzt hätte - sofortiger Zusammenbruch jeder Kampfmoral oder die Inkarnation eines anderen Helden, weil Kriegssituationen Helden erzeugen? Oder brauchen Kriege die Mentalität der Helden zu ihrem Aufflammen und ihrer Fortführung? Viele Fragen, und keiner weiß die richtige Antwort.

Ein Krieg erfordert viel Tapferkeit nicht nur vor dem Feind, sondern auch, damit man im Kriegsland die Zerstörung seiner bisherigen Existenz aushält, den Verlust eines Alltags, der bis vor Kurzem noch normal und unzerstörbar schien; damit man die Bomben, die Devastierung rundherum, die ständige Angst irgendwie erträgt. Ein Krieg fordert unvorstellbar viel Tapferkeit von Frauen und Kindern, sofern wir das Wort Tapferkeit verwenden wollen, wenn Mütter es schaffen sollen, den Tod ihrer gefallenen Söhne zu überstehen, oder Frauen den Tod ihrer gefallenen Männer, oder Kinder den Tod ihrer gefallenen Väter.

9000 ukrainische Soldaten sollen bisher getötet worden sein, 7000 gelten als vermisst, über 8000 zivile Todesopfer zählen die Vereinten Nationen; die Zahlen sind nicht exakt, wie immer, wenn die Toten in die Tausende gehen, aber jeder zu Tode gekommene Mensch hatte ein Leben, eine Aufgabe, eine Familie, jeder hatte Freundinnen und Freunde, für die er unersetzlich ist. Wie schafft es ein Kriegsheld, der die Verantwortung für das Kriegsgeschehen übernommen hat, mit dem Wissen darum-und hoffentlich weiß er, dass jeder und jede Tote unersetzlich ist-fertig zu werden? Wie schafft er es, tote Menschen als unvermeidlichen Verlust zu sehen und weitere solche Verluste einzukalkulieren in seine Überlegungen?

Nein, das wird keine Opfer-Täter-Umkehr. Wolodymyr Selenskyj ist nicht schuld an der Kriegslogik, der die Geschehnisse jetzt folgen, aber trotzdem stellt sich die Frage, wie er die Toten, die Zerstörung, das Leid mental in notwendige Kollateralschäden umrechnet, die andere in Kauf nehmen müssen, und welche seelischen Beeinträchtigungen er selbst dafür in Kauf nimmt.

Richtig, nicht vergessen: Russland ist der Feind. Aber Russland besteht aus vielen Millionen Russen, die nicht von sich aus beschlossen haben, die Ukraine zu überfallen, sondern die von einem gewissenlosen und großmannsüchtigen Befehlshaber in einen Krieg getrieben wurden, den sie nicht einmal als solchen benennen dürfen. Manche gehen auf die Straße und protestieren gegen diesen Krieg, sie kommen dafür ins Gefängnis. Viele russische Soldaten sind schon umgekommen, und jeden Tag sterben neue. Mütter trauern. Kann sein, dass ihnen erfolgreich eingeredet wird, ihre Söhne seien für eine gerechte Sache gestorben. Den Schmerz nimmt es ihnen trotzdem nicht.

Ein Krieg erfordert viel Tapferkeit nicht nur vor dem Feind, sondern auch, damit man im Kriegsland die Zerstörung seiner bisherigen Existenz aushält, den Verlust eines Alltags, der bis vor Kurzem noch normal und unzerstörbar schien.

Aber die Russen sind der Feind, und die Gräueltaten der russischen Soldaten in den anfangs besetzten und inzwischen zurückeroberten ukrainischen Landesteilen machen es leicht, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen. Im Krieg wird nicht unterschieden zwischen Kriegsverbrechern und den Kriegsgegnern im Feindesland.

Wie schaut da ein Held aus? Jahrelang haben wir uns bemüht, andere Heldenbilder zu polieren: den sensiblen Mann, den Kinderwagenschieber, den Windelwechsler, den Waschmaschinenbediener, den geduldigen Zuhörer. Aber nun bricht er wieder hervor, der ganze Kerl mit dem Kriegsgerät. Immer war er da und hat darauf gelauert, von ganzen Männern in Stellung gehalten hinter dem Dickicht des von uns beschworenen Wunschdenkens. Monatelang hat Selenskyj seine Kinder nach Kriegsausbruch nicht gesehen, das musste sein, aus Sicherheitsgründen. Heldenverzicht.

Manchmal tauchen bei der Heldenbewunderung störende Assoziationen auf, an Oligarchen-Freundschaften und Offshore-Konten, die der Präsident für sich eingerichtet hat, als er noch kein Held war, sondern ein Wahlsieger, der versprochen hatte, die Korruption zu beenden. Manchmal tauchen störende Bilder auf, zum Beispiel solche vom gestylten Präsidentenpaar vor Bombenruinen und Panzern, aufgenommen von der extra eingeflogenen US-Starfotografin Annie Leibovitz, aber natürlich kann man daran glauben, dass sie der Kampfmoral der demoralisierten Bevölkerung einen Durchhalteschub verpasst haben. Gelegentlich melden sich störende Stimmen aus der Ukraine, die den todesmutigen Verteidiger westlicher Werte als Medienhasser beschreiben, der Journalist:innen angeschrien und bevormundet habe. Aber egal, jetzt ist nicht die Zeit, am Heldenbild zu kratzen, die Welt braucht eine Lichtgestalt in all der Finsternis, die uns bedroht.

"Diener des Volkes" heißt die Satireserie, die Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine berühmt gemacht hat, ehe er Politiker wurde. Er spielt darin einen Idealisten, an dessen Unbestechlichkeit korrupte Oligarchen scheitern. Harmlos tritt er darin auf, schlau zwar, aber auch verbindlich, mit einem weichen Bubengesicht. Die Rolle, in die ihn die Realität jetzt katapultiert hat, hat ihn in einen kompakten Mann verwandelt, kämpferisch, kriegerisch, unbeugsam, unerbittlich im ukrainischen Interesse.

Wer am Ende woran scheitert, ist noch offen. Für alle von diesem Krieg Befallenen.

Elfriede Hammerl

ist den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 geboren und in Wien aufgewachsen. Seit 1984 Kolumnistin des profil mit den Schwerpunkten Frauen-und Sozialpolitik. Autorin von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und Drehbüchern. Mitinitiatorin des Frauenvolksbegehrens von 1997.